Im Neuen Testament ist es vor allem der Evangelist Lukas, der immer wieder das Staunen und Sich-Wundern als Reaktion der Menschen auf das Auftreten Jesu beschreibt. Gerade die Kindheitsgeschichte ist voll von diesem Staunen. Das Volk wundert sich, dass Zacharias so lange im Tempel bleibt (Lk 1,21). Seine Verwandten wundern sich, als Zacharias auf dem Namen Johannes für seinen Sohn besteht (Lk 1,63). Maria und Josef staunen über die Worte der Hirten über das Kind (Lk 2,18). Und sie wundern sich über die Worte, die der greise Simeon über das Kind spricht (Lk 2,33). Und als der zwölfjährige Jesus mit den Schriftgelehrten diskutiert, sind alle erstaunt „über sein Verständnis und über seine Antworten“ (Lk 2,47).
Sich-Wundern im Lukasevangelium
Lukas will uns mit seiner Erzählung von der Geburt Jesu dazu einladen, dass auch wir darüber staunen, dass Gott Mensch geworden ist, dass Gott in diesem Kind, das in der Krippe liegt, sich selber für uns zeigt. Die Herrlichkeit Gottes leuchtet in diesem hilflosen Kind auf, das arm in einem Stall geboren wird. Doch es bedarf der Botschaft des Engels, damit die Hirten in diesem Kind in der Krippe Gottes Lichtglanz erkennen. Das Weihnachtswunder will uns die Augen dafür öffnen, dass Gott sich auch in vielen kleinen Dingen unseres Alltags zeigen möchte. Wir sollten dann wie die Menschen in der Kindheitsgeschichte des Lukasevangeliums immer wieder staunen über die Wunder in unserem Alltag.
Wunder in der Begegnung
Wenn wir über die Wunder des Alltags sprechen, dann geht es nicht in erster Linie um den alten Wunderbegriff, der meint, Wunder sei ein Durchbrechen der Naturgesetze. Die Bibel zeigt uns einen anderen Wunderbegriff: Wunder geschieht immer in der Begegnung. So geschehen auch die Heilungswunder im Neuen Testament immer in der Begegnung mit Jesus. Die Begegnung mit Jesus bedeutet immer auch Begegnung mit mir selbst. In der Begegnung kann oft das Wunder der Verwandlung geschehen. Das dürfen wir im Alltag immer wieder erleben, wenn wir dem anderen ohne Vorurteil und ohne Nebenabsichten begegnen, ohne den Druck, wir müssten vor ihm eine gute Figur machen. Lukas beschreibt das Geheimnis solcher Begegnungen, als Maria Elisabet besucht. Maria geht drei Tage über das Gebirge, sie geht sich frei von allen Bildern, die sie von Elisabet und die sie von sich selbst hat. Als sie so frei von allen Bildern und Nebenabsichten Elisabet begrüßt, hüpft das Kind im Leib Elisabets auf (Lk 1,41). Elisabet kommt in Berührung mit ihrer eigenen Lebendigkeit und ihrem ursprünglichen Bild. Solche Wunder einer Begegnung können wir im Alltag immer wieder erleben. Die Voraussetzung, dass eine Begegnung uns verwandelt, ist die innere Freiheit vom Ego. Nur wenn wir in Berührung sind mit unserem Selbst, kann das Wunder der Verwandlung in der Begegnung geschehen. Gerade an Weihnachten sehnen wir uns nach solchen Begegnungen, die uns verwandeln, die das ursprüngliche Bild in uns und im anderen aufleuchten lassen.
Wunder in der Geschichte
Auch das Alte Testament sieht das Wunder nicht als Durchbrechung der Naturgesetze, sondern als geschichtliches Handeln Gottes. Das größte Wunder für Israel ist der Auszug aus Ägypten, bei dem Gott selbst das Volk herausgeführt hat aus der Gefangenschaft. Doch trotz der Wundererfahrung hat das Volk immer wieder gegen Gott rebelliert. Israel erinnert sich in jeder Sabbatfeier an das Wunder der Befreiung, aber auch an die oft undankbare Reaktion des Volkes.
Wenn wir dieses Wunderverständnis auf unseren Alltag beziehen, dann werden wir offen für das wunderbare Wirken Gottes in unserer persönlichen Lebensgeschichte. Immer wieder dürfen wir erfahren, dass uns etwas Wunderbares widerfährt. Wir wundern uns, dass uns ein Mensch anruft, von dem wir lange nichts gehört haben. Wir wundern uns, wenn wir auf der Autobahn auf die linke Spur fahren wollen, um zu überholen, und wir gerade noch dem schnellen Auto ausweichen können, das schon auf der Überholspur ist. Wir wundern uns, wenn auf einmal etwas Unvorhergesehenes geschieht, wenn sich ein Problem auf einmal von selbst auflöst, wenn uns eine Arbeit gelingt. Wir sind erstaunt, dass auf einmal ein Brief ankommt von einem Freund, einer Freundin, die jahrelang nichts von sich hören ließen, oder wenn uns jemand ein Paket schickt.
Spiritualität zeigt sich gerade darin, dass wir in jedem Geschehen einen Wink von Gott wahrnehmen, wenn wir in den Ereignissen unseres Alltags Gott selbst am Werk sehen. Dabei wissen wir nicht immer gleich, was uns Gott damit sagen möchte. Aber wir sind offen, nach Gottes Botschaft in unserer konkreten Lebensgeschichte zu fragen. Das gilt auch für negative Erfahrungen, etwa wenn wir einen Unfall haben und uns den Arm oder das Bein brechen. Wir können das negativ deuten als Strafe oder wir beschimpfen uns selbst, weil wir nicht aufgepasst haben. Oder aber wir können versuchen, darin eine Botschaft Gottes zu sehen und sie zu verstehen. Gott wirkt immer in jedem Augenblick. Es liegt an uns, über sein Wirken zu staunen.
Das Wunder der alltäglichen Dinge
Wir können an den kleinen Dingen des Alltags vorbeigehen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Oder aber wir können sie bewusst erleben. Dann wird alles zum Symbol für das Wunderbare. Der Tisch, an dem wir essen, wird dann zum Ort der Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, die uns trägt. Die jüdische Dichterin Nelly Sachs sieht in allem Geschaffenen die Sehnsucht nach etwas Neuem und Unverfälschten, nach dem Ursprünglichen. Wenn wir den Tisch mit Sehnsucht betrachten, dann spricht er von Mahlzeiten, in denen wir das Miteinander genießen durften, in denen wir wunderbare Gespräche führten und ein Einssein spürten, das uns über das Alltägliche hinaushob. Und der Tisch in unserer Wohnung erinnert uns an den Tisch des Herrn, zu dem uns Jesus einlädt, um uns selbst mit seiner Liebe zu bewirten.
Nelly Sachs spricht vom Herd als „abgefallenes Stückgut der Sehnsucht“. Der Herd weckt in uns die Sehnsucht nach Wärme, nach Heimat, nach Geborgenheit. Das Fenster, das uns den Blick in die Landschaft öffnet, wird zum Symbol für unser Denken und Sprechen. Wir können Gott nicht wirklich beschreiben und über ihn nicht so sprechen, dass wir seine Wahrheit zum Ausdruck bringen können. Unsere Gedanken und Worte, und all die Bilder, die wir von Gott haben, sind gleichsam Fenster, durch die wir hindurchschauen auf das Eigentliche hin. Die Türe, durch die wir schreiten, öffnet uns neue Räume. Nicht umsonst haben früher viele katholische Christen an der Haustür ein Weihwasserbecken angebracht. Sie hatten noch ein Gespür für das Geheimnis der Schwelle. So praktizierten sie als Schwellenritual, sich bewusst mit dem Weihwasser zu bekreuzen, wenn sie nach Hause kamen. Sie wollten sich von den Trübungen, die sie in dem Trubel der Welt erlebt hatten, reinigen, damit sie in ihr eigenes Haus eintreten konnten, zu dem die Welt mit ihrem Chaos keinen Zutritt hat. So können wir achtsam jede Tür öffnen und spüren, was es bedeutet, die Tür zu finden, die uns zum Leben führt. Jesus selbst hat sich ja als die Tür bezeichnet: „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird einund ausgehen und Weide finden.“ (Joh 10,9)
Die Wunder, die in unserem alltäglichen Tun stecken
In jedem Augenblick atmen wir ein und aus. Viele tun das, ohne dass sie sich bewusst machen, welches Wunder im Atem steckt. Gott hat uns den Atem des Lebens eingehaucht. Im Atmen strömt Gottes Geist in uns ein, er vertreibt alles Verbrauchte in uns und erfüllt uns mit neuer Frische. Rumi nennt den Atem den Liebesduft Gottes. Wenn wir achtsam die Liebe Gottes einatmen, fühlen wir uns von Gottes Liebe durchdrungen. Der Philosoph unter den alttestamentlichen Autoren, Kohelet, meint, Mensch und Tier hätten denselben Atem (Koh 3,19). Im Atmen können wir uns also verbunden fühlen mit allen Menschen, aber auch mit allen Tieren, ja mit der ganzen Schöpfung.
Auch das alltägliche Tun wie Kochen und Backen kann zum Wunder der Verwandlung werden, wenn wir es achtsam vollbringen. Das Kochen verbindet Menschen miteinander. Wir kochen die Speisen, die den Menschen nicht nur nähren, sondern auch erfreuen. Und Kochen ist Ausdruck der Liebe. So sagt der Dalai Lama einmal: „Widme dich der Liebe und dem Kochen mit ganzem Herzen.“ Und der verstorbene Abt von Tholey, der vor seinem Eintritt ins Kloster Spitzenkoch war, meint: „In der Küche geben wir Antworten auf die Geschenke Gottes.“ Das Backen ist eine uralte Tätigkeit. Früher wurde das Brot in Öfen gebacken, die in die Erde gegraben waren. Man glaubte, dass im Backen die Leben spendende Kraft der Erde wirksam wird. Die Backöfen standen in der Mitte des Dorfes. Sie waren Zeichen der Zusammengehörigkeit und der Gemeinschaft. Der hl. Augustinus sieht das Backen als Bild für unser Leben. Wir alle – so meint er – werden in der Hitze des Lebens wie in einem glühenden Ofen gebacken und dadurch verwandelt. Gerade in der Weihnachtszeit wird das Backen der Weihnachtsplätzchen für viele Menschen zur Verheißung eines neuen Geschmacks, den unser Leben dadurch bekommt. Das Weihnachtsgebäck verheißt uns die Süßigkeit, die die Frauenmystik des Mittelalters als „dulcedo dei“, als Süßigkeit Gottes verstanden hat.
Wunder, die Schmuck uns verheißt
Seit jeher schmücken sich die Menschen mit Ringen, mit Anhängern, mit Perlenketten. In jedem Schmuck steckt die Verheißung auf ein Wunder der Verwandlung. Der Ring wird zum Symbol dafür, dass meine begrenzte Liebe teilhat an der grenzenlosen Liebe Gottes. Der Anhänger sagt mir, dass Gott mir anhängt, dass Gott mich auf all meinen Wegen begleitet, dass es keine Situation, kein Gespräch, keine Begegnung gibt, in der Gott nicht bei mir ist, um mich zu stärken. Und die Perlenkette verheißt mir, dass meine Wunden in Perlen verwandelt werden.
Gerade in der Weihnachtszeit wird der Schmuck, mit dem wir unsere Häuser auf das Fest vorbereiten, zum Wunder der Verwandlung. Der Adventskranz verheißt uns, dass unser Leben gelingen wird. Denn mit einem Kranz schmückte man in der Antike die Sieger. Und im Adventskranz drücken wie unsere Hoffnung aus, dass unser Miteinander in der Familie gelingt. Der Christbaum, den wir an Weihnachten in unsere Wohnungen stellen, symbolisiert den Paradiesesbaum. Daher schmücken wir ihn mit bunten Kugeln. Wir können den Christbaum nur als äußeren Schmuck ansehen. Wir können aber darin auch das Wunder erkennen, dass unser Haus zu einem Ort des paradiesischen Friedens werden kann, wenn wir uns nicht nur äußerlich an die Geburt Jesu erinnern, sondern wenn Christus in uns geboren wird.
Der Duft, den der Adventskranz und der Christbaum in unseren Wohnungen verströmt, lässt uns das Geheimnis der Menschwerdung Gottes erahnen. Wir spüren, dass unser Haus zur Heimat wird, weil das Geheimnis Gottes selbst in unser Haus eingezogen ist durch die Geburt Jesu. Wir lassen die Geburt Jesu durch die Krippe, die wir oft von unseren Eltern oder Großeltern übernommen haben, in unserer Wohnung sichtbar werden. Zugleich haben wir durch die oft sehr einfachen Weihnachtskrippen, die aus ärmlicher Zeit stammen, teil an der Lebenskraft und Glaubenskraft unserer Vorfahren.
Zum Wunder werden
So kann uns alles, was wir im Alltag tun und sehen, zum Wunder werden. Es ist letztlich immer das Wunder der Verwandlung. Die Dinge sind voller Verheißung, dass Verwandlung auch in uns geschieht, dass wir mehr und mehr verwandelt werden in das einmalige und ursprüngliche Bild, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat.