Frau Heide, Sie sind Rehabilitationspsychologin und unterstützen das Team um Heike Espenhahn dabei, die psychische Gesundheit der Kinder zu stärken. Wie kam es dazu?
Isabel Heide: Ich bin seit Oktober 2019 dabei, gefördert durch ein Programm, das Kitas mit „besonderen Bedarfen“ nach gesetzlicher Grundlage von § 23 KiFöG LSA unterstützen soll. Als Psychologin habe ich ganz andere Kenntnisse und es stellte sich die Frage: Wie können wir das alles miteinander vereinbaren?
Heike Espenhahn: Frau Heide hat aufgrund ihres Studiums einen ganz anderen Blick, was für uns als Team eine absolute Bereicherung ist. Wir sind eine Kita bestehend aus sechs Gruppen mit jeweils 25 Kindern und in der Regel sind zwei Stammerzieher:innen pro Gruppe eingeplant. Wenn ein Kind besondere Aufmerksamkeit oder Zeit braucht, weil es mit der Gruppensituation oder persönlich überfordert ist, ist Frau Heide präsent.
Wie darf ich mir das vorstellen?
Heike Espenhahn: Sie unterstützt die pädagogischen Fachkräfte in der Gruppe. Der Alltag ist teilweise sehr straff gestrickt und daher ist es wirklich gut, wenn noch jemand gezielt auf die emotionalen Bedürfnisse der Kinder schaut. Wir sind eine Kita mit besonderen Bedarfen, da unser Einzugsgebiet sehr speziell ist. Das heißt, wir haben viele Familien, in denen die Eltern teilweise nicht arbeiten gehen, es gibt bildungsbenachteiligte Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.
Wofür genau ist dann Frau Heide zuständig?
Isabel Heide: Es gibt drei Schwerpunkte in meiner täglichen Arbeit, und zwar sind die Zielgruppen die Kinder, die Eltern und auch die pädagogischen Fachkräfte. Bei den Kindern steht die Stärkung der Resilienz im Vordergrund. Die Kinder sollen merken, dass jemand für sie da ist, ihre Bedürfnisse wahr- und ernst genommen werden. Ich erarbeite mit ihnen neue Lösungswege und zeige ihnen Strategien, um ihre Probleme selbst lösen zu können.
Nehmen Sie mich mal mit in einen Tag in der Kita.
Isabel Heide: Durch die Fallberatungen im Team erarbeite ich mir einen groben Plan, welche Kinder meine Hilfe benötigen. Ich gehe jeden Morgen durch alle Gruppen, mache mit den Erzieher:innen ein kleines Blitzlicht. Das hilft mir zu entscheiden, welche Gruppe ich an diesem Tag besuche. Wir hatten eine Situation, in der sich das Kind schon selbst verletzt hatte, und da hatte es Vorrang, dass ich diese Gruppe unterstütze.
Wie wird das von den anderen Teammitgliedern angenommen?
Heike Espenhahn: Ich muss dazu sagen: Frau Heide hat eine sehr ruhige und diplomatische Art. Ich glaube, dass ist von Beginn an ihr Pluspunkt gewesen. Für einige Kolleg:innen ist es schwierig, wenn jemand von außen das pädagogische Handeln kritisiert. Frau Heide ist da sehr empathisch. Wenn es notwendig war, wurde die Kollegin zur Seite genommen, die Beobachtung geschildert und zur Selbstreflexion motiviert. Das kommt im Team gut an.
Isabel Heide: Ich bin als Unterstützung da. Mit konstruktiver Kritik möchte ich die Fachkräfte stärken. Es ist ja so, dass ich zusätzlich auf Situationen schauen kann, in denen sich die Fachkräfte unsicher sind. Ich sehe, was die Erzieher:innen am Tag leisten müssen. In den Gruppen sind teilweise mehrere verhaltensoriginelle Kinder. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist schon schwer.
Wie genau gehen Sie in einer solchen Situation auf einen Kollegen oder eine Kollegin ein?
Isabel Heide: Zuerst schaue ich, wie die Erzieherin oder der Erzieher in einer bestimmten Situation reagiert, sodass ich weiß, wo ich ansetzen kann. Und dann gehen wir in den Austausch, ich mache Vorschläge oder gebe in der konkreten Situation einen Impuls. Ich schlage ihnen Ideen und Vorgehensweisen vor, in denen sie trotzdem flexibel sind und Wege ausprobieren können. Wenn das hilft, dann kann man es noch mal so versuchen; wenn nicht, dann müssen wir neue Ideen finden.
Heike Espenhahn: Ich muss sagen, dass es immer schade ist, dass solche Programme zeitlich gebunden sind. Normalerweise wäre das eine Sache, die man für jede Kita installieren sollte, weil der Personalschlüssel – machen wir uns nichts vor –, der ist nicht super. Ich habe ein tolles Team, tolle Kolleg:innen, die machen jeden Tag ihre Arbeit mit gutem Gewissen. Aber manchmal kommt man an seine Grenzen – vor allem, wenn es so viele verhaltensoriginelle Kinder in der Gruppe gibt. Manchmal weiß man nicht, wie man richtig damit umgehen oder wie man das Ganze noch schaffen soll.
Haben Sie Ideen für eine Veränderung?
Heike Espenhahn: Erst mal wäre es generell wichtig, den Personalschlüssel in Sachsen-Anhalt zu überdenken und den § 231 für alle Kitas präsent zu machen. Es sollte nicht nur eine Förderung durch ein zeitlich begrenztes Programm erfolgen. Wir sprechen hier von Bildung von Anfang an und die Bildung sollte uns etwas wert sein. Um etwas zu ändern, ist die Politik gefragt.
Frau Heide, haben Sie den Eindruck, dass sich die Wahrnehmung der Kinder für die eigenen Gefühle verändert hat?
Isabel Heide: Ich sehe immer wieder kleine Effekte meiner Arbeit. Die Kinder sind achtsamer miteinander. Wenn sie sprachlich keine Lösung finden, holen sie sich Hilfe bei einem Erwachsenen. Es ist wirklich ein schönes Gefühl, zu merken, dass die Kinder den Mut finden, sich zu öffnen. Sie brauchen das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Es sollte ihnen die Möglichkeit gelassen werden, ihre Probleme erst mal selbst anzugehen und zu versuchen, eigene Lösungen zu finden.
Gab es auch Situationen, die für Sie und das gesamte Team herausfordernd waren?
Heike Espenhahn: Ja, da gab es ein ganz konkretes Beispiel. Das Kind war sehr aggressiv sich selbst gegenüber, aber auch anderen Kindern und Fachkräften gegenüber. Wir haben versucht, Lösungswege zu finden, auch dem Kind Lösungsstrategien mit an die Hand zu geben, aber leider hat sich die Familie geweigert, mitzuarbeiten. Da mussten wir das Jugendamt mit ins Boot nehmen. Die Familie hat sich allem verweigert, sodass wir letztendlich den Platz kündigen mussten. Das war das erste und einzige Mal, dass wir so handeln mussten. Die Familie wollte leider keine Hilfe annehmen und ich musste mein Personal schützen. Normalerweise würde das Kind dieses Jahr eingeschult werden. Wir wissen aber, dass das Kind in keiner Einrichtung angekommen ist. Glücklicherweise ist nun wohl eine Familienhilfe mit Auflagen vom Jugendamt in der Familie, die den Kontakt zu uns gesucht hat. Das fand ich gut, da wir das Kind eine Weile begleitet haben. Wir hätten uns nie von dem Kind getrennt, wenn wir gemerkt hätten, dass die Eltern sich bemühen und mit uns zusammenarbeiten wollen. Denn letztendlich sind wir dafür da, dass es den Kindern gut geht und dass sie gut auf den nächsten Lebensabschnitt Schule vorbereitet werden.
Frau Espenhahn, wie funktioniert bei Ihnen die Zusammenarbeit mit Eltern?
Heike Espenhahn: Die Coronapandemie hatte Auswirkungen auf die Kinder und da war es sehr hilfreich, Frau Heide im Team zu haben. Sie hielt über ein Diensthandy immer den Kontakt zu den Familien, da nicht alle Kinder die Einrichtung besuchen durften. Dadurch konnte Frau Heide den Unterstützungsbedarf abfragen und das Vertrauen der Familien in uns als Einrichtung ist gewachsen. Gerade nach Corona gehen viele Eltern ängstlicher mit ihren Kindern um. Die Kinder werden teilweise überbehütet oder die Eltern sind sehr viel mit sich selbst beschäftigt und kümmern sich weniger um ihre Kinder. In unserem Elterncafé können Eltern zusammenkommen. Mit unterstützender Beratung von Frau Heide werden da auch Fragen zur Erziehung oder zum wertschätzendem Umgang mit dem eigenen Kind besprochen.
Isabel Heide: Es gibt auch die Möglichkeit, direkt auf mich zuzukommen und mich anzusprechen. Wenn das Kind plötzlich auffällig anders reagiert, hinterfrage ich, ob sich etwas in der Familiensituation verändert hat. Kinder merken, dass etwas anders ist, dass die Abläufe sich verändern, und das hat Auswirkungen auf den Kita-Alltag. Solche Informationen sind wichtig, um in bestimmten Situationen angemessen und vorurteilsbewusst zu reagieren.
Wie sieht es mit psychischen Krankheiten bei Eltern aus?
Isabel Heide: Wir wissen es nicht offiziell. Manche Familien suchen das Gespräch und dabei stelle ich fest, dass es sich möglicherweise um eine Angststörung oder Borderline-Persönlichkeitsstörung handeln könnte. Hier ist es beispielsweise wichtig, dass das Personal in Gesprächen geschult ist, da Betroffene mit Borderline-Syndromen auch manipulativ auftreten können. Meine Aufklärung schafft kleine Aha-Effekte bei den Kolleg:innen, da sie ein besseres Gespür für manche Eltern bekommen.
Heike Espenhahn: Eine Mutti hatte sich beispielsweise vorher überhaupt nicht geöffnet, war immer nur auf Konfrontation aus, aber aufgrund des Gesprächs mit Frau Heide und der Erzieherin wurde sie nahbarer und offener. Die Kolleg:innen gehen jetzt sensibler mit diesen Situationen um und reagieren angemessen.
Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?
Heike Espenhahn: Ich würde mir wünschen, dass die Förderung des Programms für Kitas mit besonderen Bedarfen auf jeden Fall weitergeht, da wir dann eine bessere Planungssicherheit haben. Die Bildung, nicht nur in Kitas, sondern auch in Schulen, muss einen höheren Stellenwert bekommen.
Isabel Heide: Ich wünsche mir, dass ich weiterhin von den Kindern, Familien und Erzieher:innen akzeptiert und als Ansprechpartnerin wahrgenommen werde.
Das Interview führte Karen Sachse, Redaktion kindergarten heute.