Jingle: Gemeinsam wachsen, gemeinsam lernen. Willkommen beim Podcast von Kleinstkinder in Kita und Tagespflege.
Katrin Imbery: Hallo, mein Name ist Katrin Imbery. Ich bin Redakteurin bei der Fachzeitschrift Kleinstkinder in Kita und Tagespflege und ich freue mich sehr, heute mit einer Expertin über Lerngeschichten zu sprechen, ein Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren, das ursprünglich aus Neuseeland stammt. Frau Dreier, erstmal herzlichen Dank, dass Sie sich heute Zeit für uns nehmen. Ich möchte Sie ganz kurz vorstellen. Sie sind pädagogische Fachkraft, Fortbildnerin und Mitglied des Leitungsteams im Kindergarten San Franziskus in Benningen. Ich finde, Ihre Einrichtung ist in vielerlei Hinsicht eine sehr bemerkenswerte und innovative und das finde offensichtlich nicht nur ich, denn sie sind vielfach ausgezeichnet. Unter anderem haben sie den zweiten Platz belegt bei der Wahl zur Kita des Jahres 2020. Und nicht zuletzt sind Sie Autorin unseres Titelthemas in der aktuellen Kleinstkinder-Ausgabe und haben geschrieben über Lerngeschichten. Können Sie vielleicht für all jene, die mit dem Begriff bislang noch nicht viel verbinden, das Konzept noch mal ganz grob umreißen?
Frau Dreyer: Ja, hallo Frau Imbery. Ich begrüße Sie auch ganz herzlich. Ich bedanke mich für die Einladung, diesen Podcast zu machen und ich habe auch viel Freude gehabt bei dem Schreiben des Artikels, wo wir auch schon viel miteinander gesprochen haben.
Ich arbeite wirklich gern bei uns in der Einrichtung und wir haben es auch arbeitsorganisatorisch mit den Lerngeschichten so eingerichtet, dass wir einmal die Woche Lerngeschichten schreiben, sodass ich das auch ganz gut hier darstellen kann, wie dieser Theorie-Praxis-Transfer abläuft. Das Konzept einer Lerngeschichte ist so , dass sie sehr stark von den Beobachtungen abhängt. Die Lerngeschichten beschreiben dann eine alltägliche und besondere Situation, in denen Lernen und Entwicklung stattfindet und sie dokumentieren ganzheitliches Lernen.
Katrin Imbery: Und was ist für Sie der Hauptunterschied zwischen einer Lerngeschichte, die Sie im Kita-Alltag aufschreiben, und einer netten Alltagsgeschichte?
Frau Dreyer: Bei einer Lerngeschichte geht es vor allem um das Wahrnehmen. Ich nehme wahr, es geschieht was Bedeutsames. Der nächste Schritt ist dann, dass ich erkenne, dass Lernen stattfindet. Ich überlege dann auch, welche Art von Lernen habe ich erkannt? Was war bedeutsam für das Kind? Auch was war bedeutsam für mich? Was war interessant für mich? Der dritte Schritt befasst sich damit, welche Gedanken ich mir gemacht habe. Wie kann ich das Kind in seiner Entwicklung unterstützen? Dazu gehört unter anderem eben auch, ob ich ein gutes Materialangebot habe bzw. was ich noch erweitern könnte. Habe ich eine gute Raumnutzung? Wie sind die Regeln? Also diese Reflexionen kommen mit dazu, das betrifft auch noch Werte und meine Haltung. Und die Lerngeschichte beschreibt dann letztendlich dem Kind: Was habe ich gelernt und wie lerne ich? Und deswegen denke ich, Lerngeschichten sensibilisieren uns für einen stärkenorientierten Blick. Sie stärken bei den Kindern das Selbstwertgefühl, das Selbstbewusstsein, das Selbstvertrauen. Und wenn ich Selbstbewusstsein habe, dann bin ich auch resilient und die Kinder nehmen sich selbst wahr. Also, wir betrachten das Lernen als ganzheitlichen, lebenslangen Prozess und mit den Lerngeschichten, die dann in dem Portfolio sind, kann das Kind seine ersten Lernerfolge nachverfolgen, wiederholen und kann immer wieder feststellen, so habe ich gelernt. Und das finde ich richtig wichtig, wenn man seine eigene Lernbiografie anschaut, auch als Erwachsener. Wenn man genau weiß, wie lerne ich was, wie behalte ich was, wie verstehe ich was, dann ist das richtig ein großer Wert, den ich da dem Kind mitgebe.
Katrin Imbery: Also, sie teilen die Geschichte mit den Kindern, Sie lesen die Geschichte vor, die sie schreiben.
Frau Dreyer: Ja, also die Kinder lieben ihre Lerngeschichten und meistens sprechen wir schon mit den Kindern zusammen darüber, wenn wir die Geschichte einheften in den Portfolio-Ordner oder die Lerngeschichte wird dem Kind im Morgenkreis vorgelesen. Wir besprechen das auch mit den Eltern, wenn Entwicklungsgespräche stattfinden. Und wir lesen sie im Team vor und haben sehr viel Freude daran, diese zu reflektieren. Also die haben eine sehr große Strahlkraft bei uns in der Einrichtung.
Katrin Imbery: Was ist Ihrer Meinung nach der große Unterschied zu anderen Beobachtungs- und Dokumentationskonzepten?
Frau Dreier: Die Lerngeschichte nimmt auch die Fachkraft selber mit rein in den Prozess. Ich habe keinen einseitigen Prozess, sondern ich gestalte die Beziehung mit. Ich zeig dem Kind, ich verstehe dich. Ich kann deine Perspektive wahrnehmen, ich kann dich unterstützen. Ich persönlich empfinde auch, dass die Lerngeschichte noch eine sehr hohe Außenwirkung hat und eine höhere Sichtbarkeit, weil wir mit den Kindern n ins Gespräch gehen über die Lerngeschichte. Wir gehen mit den Eltern der Kinder in Austausch, wir gehen im Team in den Austausch und das äh stärkt schon die Transparenz. Wenn ich im U3-Bereich Kinder habe, die noch nicht so viel von ihren Erlebnissen im Kindergarten erzählen, habe ich da ein sehr gutes Gerüst,an das sich das Kind erinnert und wie gesagt, und die Eltern freuen sich auch daran.
Katrin Imbery: Wer Kinder nach diesem Konzept beobachtet, der lenkt ja den Blick nicht primär auf ihre konkreten Fähigkeiten, sondern eher darauf, wie es individuelle Lösungen findet oder z.B. mit anderen Kindern in Kontakt ist. Um jetzt mal etwas konkreter zu werden, worauf genau lenken Sie ihren Blick? Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Frau Dreyer: Also der Beginn einer Lerngeschichte könnte so aussehen, dass man beobachtet, wie ein Kleinkind Kontakt aufnimmt. Wenn man in diesem Bereich seinen Blick schult, dann merkt man, dass zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Kontaktaufnahme zu anderen Kindern stattfindet, um vielleicht einen Spielpartner zu finden. Dann kann ich achtsam beobachten und wahrnehmen, wie genau und individuell das Kind das macht: Wie ist seine Kontaktaufnahme? Was unternimmt es alles? Und der nächste Punkt ist dann: Fühle ich, dass ich diese Situation unterstützen muss? Gelingt dem Kind so die Kontaktaufnahme oder braucht es da Unterstützung? Wiederholt sich die Kontaktaufnahme jeden Tag? Wird aus dieser Spielpartnerschaft gerade eine Freundschaft? Und was unternehmen die Kinder dafür? Wenn man diese Beobachtung schult, dann wird man selber viel Freude daran haben und wird auch sehen Wie habe ich es gestaltet, wie viel Unterstützung war von mir notwendig, wann nehme ich mich raus? Also all diese Schritte denke ich dann mit in diesem Prozess, der sehr vielseitig sein kann.
Katrin Imbery: Und wie geht es dann nach so einer Beobachtung weiter? Also, wie ist der Prozess einer Lerngeschichte?
Frau Dreier: Also Wahrnehmen und Beobachten habe ich jetzt gerade beschrieben. Dann kommt Dokumentieren und dafür muss ich natürlich vorbereitet sein. Also bei uns ist es so, dass jeder eine eigene Kamera hat und jeder hat auch immer Stift und Zettel bereit und wir sind auch im Blickkontakt mit unseren Kollegen, damit wir uns gegenseitig unterstützen können. ,
Katrin Imbery: Und wann bekommt das Kind seine Lerngeschichte? Wahrscheinlich möglichst zeitnah, damit es sich dann noch erinnern kann an die Situation, oder?
Frau Dreyer: Also, mein Zeitraum ist innerhalb von zwei Wochen. Ich kann es nicht jedes Mal in einer Woche schaffen. Bei uns ist ja die Vorgabe, einmal in der Woche eine Lerngeschichte für ein Kind.
Katrin Imbery: Sie schreiben in Ihrem Artikel: Eine Lerngeschichte ist immer auch eine Beziehungsgeschichte. Da würde ich gerne noch mal ein bisschen genauer nachhaken, was Sie darunter verstehen.
Frau Dreyer: Der Beobachtungsprozess ist eine Form der Beziehungsgestaltung, mit dem immer wieder der Prozess des Verstehens des kindlichen Lernverhaltens geübt wird. Und je besser wir das verstehen, desto besser gelingt die Beziehung. Und wenn wir feinfühlig beobachten und achtsam wahrnehmen, dann sehen wir ganz viele Schritte und Anstrengungen, die Kinder unternehmen, um z.B. in Kontakt zu treten. Meine eine eigene Herausforderung ist ja dann, wie stark gehe ich selber da in den Austausch hinein? Lass ich das Spiel laufen? Bin ich Gesprächspartner? Stelle ich denkanregende Fragen? Wie hast du das gemacht? Oder bin ich Impulsgeber? Setze ich ein neues Material ein? Ich bin neugierig, was das Kind tut. Ich nehme es wahr, ich höre zu und ich antworte. Also, das ist so die Resonanz, in die man mit dem Kind geht und das macht auch wahnsinnig viel Spaß. Es geht also auch darum, die Identität des Kindes zu fördern. Ich werde gesehen, ich werde beachtet und ich werde auch ermutigt in meinem Lernprozess und in meinem Lernen weiterzugehen. Und genau durch diese Haltung und dieses Verhalten gestalte ich die Beziehung zu dem Kind, dass ich beobachte.
Katrin Imbery: Wir von Kleinskinder haben ja die Allerjüngsten im Blick. Deshalb würde ich gerne von Ihnen hören, wie besonders Kinder unter drei Jahren von dem Konzept profitieren.
Frau Dreyer: Ich finde, das Konzept ist super geeignet für Kinder, die unter drei Jahren sind, weil wir unseren Blick sehr stark schulen und weil die Kinder ja sehr viel nonverbal zeigen. Weil auch viel Weiterentwicklungspotenzial im Lernen steckt. Wir geben dem Kind die Möglichkeit, sich über Raum und Material ausreichend auszuprobieren, und wir begleiten es ja dann auch noch sprachfördernd beim Lernen. Wir können uns dann nachher, wenn die Lerngeschichte geschrieben ist, mit dem Kind zusammen darüber austauschen und noch mal die Freude wiederholen, die es beim Spiel erlebt hat. Wenn wir eine schöne lange Fotostrecke haben, dann erkennt sich das Kind ja auch darauf. Oder wir können ihm dann auch erklären, schau mal, wie du das geschafft hast. Du hast geschafft, deine Jacke selber anzuziehen und wir haben das fotografiert. Die Kinder erkennen sich da wieder und wie gesagt, es stärkt ihre Identität. Außerdem ist es auch noch so, dass man ja in die Lerngeschichte auch reinschreibt, wo das Kind gespielt hat und wie es da gespielt hat. Das ist ja eine Form der Zugehörigkeit. Also Kinder erkennen dann wieder: Hier fühle ich mich zugehörig, ich bin gerne in dem Nestle oder ich bin gerne in der Werkstatt und da sitze ich am liebsten vorm Sofa und spiel mit den Autos. Dann kann man dem Kind den Wortschatz dazu geben, indem man sagt: Schau mal, hier hast du erforscht, wie die Autos in der Garage rein können. Du hast sogar eine Garage gebaut und die anderen Kinder fanden die Idee so toll. So kann man den Kindern ja auch den Wortschatz für Gefühle geben, z. B.wenn man sagt: Da hast du dich so drüber gefreut, dass ihr so viele ward und alle das gleiche Interesse hatten. Also, das kann man alles mit den Lerngeschichten auch schon im U3 Bereich transportieren.
Katrin Imbery: Und werden die Kinder denn auch an der Lerngeschichte an sich in irgendeiner Form beteiligt? Also haben die Einfluss auf den Prozess?
Frau Dreier: Ja, also es kommt darauf an. Also zum einen muss ich sagen, sind die Kinder in unserer Einrichtung ohnehin daran gewöhnt, dass sie fotografiert werden. Und wenn sie einbezogen werden wollen, dann beziehen wir sie mit ein. Sie zeigen uns ja dann, dass wir das Auto fotografieren sollen, z.B. oder die Garage, die gebaut worden ist, dann wollen sie auch das Foto gerne gleich sehen. Oderwenn sie das noch nicht so ausgedrückt haben, dann können wir auch fragen oder wir erklären, dass wir die tolle Baustelle jetzt fotografieren wollen und dann eine Geschichte dadrüber schreiben, wie sie gebaut wurde. Und dann kommt man ja auch wieder mit dem Kind ins Gespräch darüber, ob sie einem noch mal erklären, wie man genau das gebaut hat und worauf sie besonders geachtet haben. Also, da zeigt man wieder die Resonanz und geht wieder mit den Kindern ins Gespräch. Und ja, man kann das Kind dann auch fragen, wenn es ein Turm gebaut hat: Was hast du alles gemacht, dass der Turm so groß wird, kannst du das noch mal zeigen? Diese Kontaktaufnahme gelingt dann auch.
Katrin Imbery: Bei Ihnen in der Kita ist ja jede Fachkraft angehalten, mindestens eine Lerngeschichte in der Woche zu schreiben. Das ist ja nicht ganz unaufwendig, wenn man ihnen zuhört. Deswegen würde ich Sie abschließend gerne fragen, wie schaffen Sie es in Ihrem Team die Begeisterung für das Konzept aufrechtzuerhalten, was Ihnen ja offensichtlich gelingt?
Frau Dreyer: Ja, also für uns ist das eine Arbeitsaufgabe, die wir überhaupt nicht in Frage stellen und wir haben ja auch Vorbereitungszeit. Und das Schönste ist eigentlich eher, dass wir Kollegen untereinander auch neugierig drauf sind, wenn gerade Bilder ausgewählt werden für eine Lerngeschichte oder wenn man merkt, am Computer und am Arbeitsplatz nebenan sitzt ein Kollege, der gerade die Lerngeschichte schreibt. Dann lässt man sich die erzählen, vorlesen oder guckt auch nach. Also bei uns ist das Interesse da sehr hoch.
Katrin Imbery: Liebe Frau Dreyer, vielen Dank für ihre Ausführung. Das war jetzt sehr, sehr anschaulich. Interessierte finden weitere Hintergrundinformation und auch ein konkretes Praxisbeispiel einer Lerngeschichte von Frau Dreyer in der Kleinstkinder-Ausgabe 4/23.
Jingle: Gemeinsam wachsen, gemeinsam lernen. Schön, dass ihr reingehört habt. Bis bald. Umfangreiches Fachwissen für die Betreuung der Jüngsten findet ihr auf www.kleinskinder.de.