Kritische ErziehungssituationenKinder nicht beschämen!

Kinder werden von Erwachsenen immer wieder in ihrer Würde verletzt. Meist geschieht dies unbewusst. kizz sprach mit dem Familientherapeuten Jochen Leucht über die Wirkung von Beschämungen und wie sie sich vermeiden lassen.

Kritische Erziehungssituationen: Kinder nicht beschämen
© Jörg Lantelme – Fotolia

Herr Leucht, Sie haben sich viel mit Beschämungen in Erziehungsverhältnissen beschäftigt. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
Wenn Kinder oft beschämt werden, kann das sehr bitter und traumatisch sein. Beschämungen passieren zum Beispiel durch Auslachen, Verhöhnen, nicht ernst Nehmen. Wir unterscheiden Beschämungen von der Scham, die eine natürliche Reaktion ist. Sie tritt aufgrund einer unangenehmen Interaktion mit meiner Außenwelt auf, zum Beispiel wenn ich eine Grenze überschritten habe. Die Beschämung wird mir hingegen von außen zugefügt. Eine wichtige Frage ist: Wie können wir als Eltern Beschämungen überhaupt erkennen? Denn wenn wir unsere Kinder beschämen, tun wir das, um eigene Scham abzuwehren. Wenn mein Kind zum Beispiel eine Fünf in Mathe nach Hause bringt, kann das in mir Gefühle ansprechen, als ich selbst ein katastrophaler Schüler war. Um das nicht spüren zu müssen, beschäme ich mein Kind, indem ich sage „Du bist ja eine ganz schöne Null“, oder „Das kommt davon, wenn man so faul ist“. Das ist vielleicht flapsig gesagt, kann ein Kind jedoch sehr verletzen.

Was passiert, wenn wir beschämt werden?
Wenn man massiv beschämt wird, blockiert man völlig, man wird mit Hormonen überschüttet, das Lernzentrum geht zu. Und mein „Notstromaggregat“ geht an, das heißt, ich muss die Scham abwehren, weil sie so eine schwer auszuhaltende Emotion ist. Oft wird das beschämende Verhalten dann reproduziert. Die meisten Beschämungen in Erziehungssituationen sind keine Zufälle, sondern passieren, weil die Erwachsenen als Kind selbst beschämt wurden.

In welchen Situationen werden Kinder beschämt, vielleicht auch unbewusst?
Wenn Eltern gestresst nach Hause kommen und keine Kraft haben, geduldig zu erziehen und Grenzen zu setzen, dann ist die Gefahr hoch, dass sie zur Beschämung greifen. Dabei kann man zwischen vier Arten von Beschämungen unterscheiden: Ich verweigere die Zugehörigkeit, ich beschädige die Integrität, ich verweigere Anerkennung und ich zerstöre den Schutz eines Menschen. Natürlich muss ich in der Erziehung auch mal auf den Tisch hauen und sagen: „Das geht gar nicht.“ Aber mache ich das von oben runter, oder gehe ich auf Augenhöhe? Prüfe ich mich, dass ich die Würde des Kindes im Blick habe und es nicht brechen will?

Können Sie ein konkretes Beispiel aus dem Alltag geben?
Wenn Eltern tobende Kinder mit dem Satz „Du gehst jetzt sofort auf dein Zimmer!“ wegschicken, ist das Beschämung pur. Die Alternative wäre, dass ich meinem Kind erkläre, warum ich den Lärm gerade nicht vertrage, und es darum bitte, woanders zu spielen. Wichtig ist dabei, dass ich von mir spreche und nicht dem Kind vermittle: „Du bist falsch“. Oft sagen Eltern in kritischen Erziehungssituationen auch Sätze wie „Dann habe ich dich nicht mehr lieb“ und treffen ihr Kind damit ganz empfindlich. Es gibt keine Erziehung ohne Beschämung, denn wir sind alle keine permanent hochreflektierten Wesen. Aber man kann beschämendes Verhalten erkennen und sich hinterher bei seinem Kind entschuldigen.  

Wie reagieren Kinder auf Beschämungen?
Manche reagieren mit Aggressionen und beschämen andere durch Gewalt und Abwertung. Viele ziehen sich zurück, haben keine Freunde, finden keinen Kontakt. Was dann in aller Regel passiert, ist, dass die Kinder wieder beschämt werden. Indem sie zum Beispiel im Kindergarten ausgeschlossen werden, auf Elternabenden negativ über sie gesprochen wird oder die ErzieherInnen sie separieren. Das ist eine Katastrophe für die Kinder und die Familien, denn sie erleben dann wieder, ausgeschlossen zu sein und wenig Anerkennung zu bekommen. Oft trifft das Familien, die ohnehin am Rand stehen.

Eine Erziehung, die die Würde von Kindern respektiert, worauf kommt es dabei an?
Für mich als Vater ist es ein wichtiges Ziel, dass mein Kind sehr selbstbestimmt aufwächst. Gleichzeitig braucht es bestimmte Momente elterlicher Kontrolle. Das ist eine Gratwanderung, denn ich muss von Situation zu Situation entscheiden, wie viel Autonomie ich meinem Kind zugestehe und wann ich Grenze setze. Ich muss wissen, was meine Werte sind, und sie meinem Kind deutlich machen. Mein Kind soll aber auch ein eigenes Wertesystem entwickeln, und das fängt relativ früh an. Ich muss also bereit sein, mich immer wieder neu auszurichten in meinem elterlichen Tun. Wenn Eltern diese Bereitschaft nicht haben, sondern verlangen, dass ihr Kind sich in ein festes Konzept einfügt, wird es schwierig und es entstehen Beschämungen. Es gibt da einen schönen Satz: Menschen müssen ihre Kinder von ganzem Herzen gehen lassen, damit sie zurückkommen können.

Jochen Leucht lebt und arbeitet in Freiburg. Als Systemischer Familientherapeut (DGSF) und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut leitet er zusammen mit einer Kollegin die Praxis tandem PRAXIS & INSTITUT, www.tandem-freiburg.org.

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