Gliederpuppen der RömerEin spannender Fund aus Thessaloniki

Eine wertvolle römische Gliederpuppe wurde 2011 in Thessaloniki in einem Grab gefunden, das in die zweite Hälfte des 3. Jhs. n. Chr. datiert werden kann. Die Puppe entspricht exakt jenen der römischen Kaiserzeit. Ihre Entdeckung in einem Grab in Griechenland, wo es bisher keine gesicherten Nachweise ähnlicher Exemplare gab, ist daher von großer Bedeutung.

Knochenpuppe aus Thessaloniki, östliche Nekropole (H. 18,6 cm), aus der zweiten Hälfte des 3. Jhs. n. Chr. , Ephorate of Antiquities of Thessaloniki City.
Abb. 1 Knochenpuppe aus Thessaloniki, östliche Nekropole (H. 18,6 cm), aus der zweiten Hälfte des 3. Jhs. n. Chr. , Ephorate of Antiquities of Thessaloniki City.© Ephorate of Antiquities of Thessaloniki City, Foto: Chiara Bianchi

Im Zuge der archäologischen Ausgrabungen, die von 2007 bis 2011 während des Baus der Metro in Thessaloniki erfolgten, konnte ein Teil der östlichen Nekropole der antiken Stadt untersucht werden. Die Knochenpuppe (Abb. 1) stammt aus dem Steinkistengrab Nr. 787 unweit der Haltestelle Sintrivani, in dem neben früheren Bestattungen auch drei erwachsene Personen gefunden wurden. Zu den Grabbeigaben gehörten Haarnadeln aus Knochen, goldene Ohrringe, eine Halskette mit Gold-, Glas- und Halbedelsteinperlen, zwei goldene Ringe, von denen einer mit einer Kamee versehen war, ein silberner Ring, ein Bronzering, Glas- und Knochenperlen, eine Gagatperlenkette, eine Goldmünze des Trajan Decius (249–251 n. Chr.), eine Silbermünze sowie Bronzemünzen.

Knochenpuppe aus Thessaloniki, östliche Nekropole, Detail des Kopfes, zweite Hälfte 3. Jh. n. Chr., Ephorate of Antiquities of Thessaloniki City.
Abb. 2 Knochenpuppe aus Thessaloniki, östliche Nekropole, Detail des Kopfes, zweite Hälfte 3. Jh. n. Chr., Ephorate of Antiquities of Thessaloniki City. Ephorate of Antiquities of Thessaloniki City, Foto: Chiara Bianchi

Die Gesichtszüge der Puppe sind mit naturalistischer Genauigkeit dargestellt, ebenso wie ihre Frisur (Abb. 2). Auf der Vorderseite erkennt man das Haar, das in gewellten Strähnen an den Seiten des Gesichts bis auf Kinnlänge herabfällt; auf der Rückseite ist ein Band aus parallelen Zöpfen zu sehen, das vom Nacken aufsteigt und am Oberkopf befestigt ist. Die Frisur ist vergleichbar mit der Scheitelzopffrisur, die im 3. Jh. n. Chr. weit verbreitet war, aber noch im 4. Jh. n. Chr. belegt ist.

Auf der Vorderseite des Rumpfes, der im Verhältnis zu den Schultern vergrößert erscheint, sind kleine Brüste und ein leicht gewölbter Bauch dargestellt, der Nabel ist naturalistisch mit einer kleinen dreieckigen Einbuchtung wiedergegeben. Auf der Rückseite ist das Gesäß abgeflacht geformt. Die Arme sind auf Ellbogenhöhe mit Gelenken ausgestattet (der obere Teil des rechten Arms ist nicht erhalten); die Hände sind mit fünf Fingern genau wiedergegeben. Die Beine verfügen an den Knien über Gelenke und die Füße sind nackt. Ein Stift aus einer Kupfer- oder Bronzelegierung, der den Rumpf mit den Armen verbindet, ist heute noch auf Schulterhöhe vorhanden. Die Stifte der anderen Gelenkverbindungen haben sich nicht erhalten; sie wurden bei der Restaurierung ersetzt.

Die Puppe entspricht exakt jenen der römischen Kaiserzeit (27 v. Chr. bis 476 n. Chr.), und ihre Entdeckung in einem Grab in Griechenland, wo es bisher keine gesicherten Nachweise ähnlicher Exemplare gab, ist daher von großer Bedeutung.

Die Puppe als Abbild des Mädchens

Die in der römischen Welt am weitesten verbreiteten Puppen stellten junge Mädchen dar, und zwar genau zu jener wichtigen Zeit, wenn sie ihre erwachsene Weiblichkeit (pupae) entwickeln. Sie hatten dieselben Frisuren, wie sie die Frauen der kaiserlichen Familien im Laufe der Jahrhunderte trugen.

Anhand stilistischer Merkmale und der Art der Gelenkverbindungen lassen sich zwei Haupttypen erkennen: naturalistisch dargestellte Puppen aus Elfenbein bzw. seltener aus Knochen (spätes 1. Jh. bis frühe Mitte des 4. Jhs. n. Chr.) sowie schematische Puppen nur aus Knochen (spätes 3. bis 6./7. Jh. n. Chr.). Bekannt sind auch eine außergewöhnliche Bernsteinpuppe aus Ontur (Abb. 3), ein Torso aus Gagat oder einem verwandten Material aus Sebatum sowie eine Holzpuppe aus Alba Fucens. Fast immer wurde an den Füßen Schuhwerk eingeritzt, bestehend aus niedrigen Stiefeln (calcei). In seltenen Fällen sind Verzierungen erhalten, die bei einer Puppe aus Tivoli, datiert auf das späte 2. und frühe 3. Jh. n. Chr., mit einer goldenen Halskette, Armbändern und Fußkettchen sehr wertvoll ausfallen.

Puppen sind in den meisten Gebieten des Römischen Reiches nachgewiesen: Sie wurden vor allem in Italien, insbesondere in Rom, aber auch in Spanien, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland, Ungarn, Slowenien, Bosnien, Kroatien, Griechenland, der Türkei und Israel gefunden. Die Exemplare stammen hauptsächlich aus Bestattungen. Sie wurden in Erdbestattungsgräber gelegt bzw. während der späteren Phase in die Grabnischen von Katakomben eingemauert. Seltener wurden Puppen in Siedlungskontexten entdeckt. Auf einige wenige unvollendete Exemplare stieß man in Knochenverarbeitungswerkstätten in Rom. Kopf und Rumpf wurden aus einem einzigen Block geschnitzt, während die Gliedmaßen separat gearbeitet und mit Stiften oder starren Drähten am Körper befestigt wurden. Bei den aufwendigsten Exemplaren gab es vier Gelenkstellen an den Schultern, Ellbogen, Hüften und Knien. Eher schematisch dargestellte Puppen weisen nur zwei Gelenkstellen an Schultern und Hüften auf.

Bernsteinpuppe aus Ontur, Nekropole Las Eras (H. 16,5 cm), zweite Hälfte 3. Jh. n. Chr. Albacete, Museo Provincial de Albacete.
Abb. 3 Bernsteinpuppe aus Ontur, Nekropole Las Eras (H. 16,5 cm), zweite Hälfte 3. Jh. n. Chr. Albacete, Museo Provincial de Albacete. akg-images / Prisma

Welche Funktion die römischen Puppen hatten, ist nicht eindeutig geklärt. Denkbar ist eine spielerische, emotionale und symbolische Bedeutung. Mit seiner Puppe hatte das Mädchen ein ideales Abbild von sich selbst vor Augen, das als junge Frau an der Schwelle zur Ehe stand. Auch vermittelten Puppen durch ihre beispielhafte, nüchterne Schönheit präzise kulturelle und soziale Vorstellungen, die Mädchen auferlegt wurden, um sie auf das Erwachsenenleben vorzubereiten, das auf Ehe und Fortpflanzung ausgerichtet war. So belegen antike römische Quellen, dass jungfräuliche Mädchen vor der Heirat ihre Puppen der Venus oder den Laren opfern konnten (Persius, Saturae, II, 68–70; Scholia ad Horatium, Sermones, I, 5, 65–66) – eine symbolische Geste, die den Übergang ins Erwachsenenleben markierte. Dass die Puppen als Symbol für den unreifen Tod stehen, wird daran deutlich, dass sie in Gräbern früh verstorbener Mädchen und junger Frauen (immaturae et innuptae) gefunden wurden, was an ihr unerfülltes Schicksal als Braut und Mutter erinnert.

Weitere Fundstücke

Für ein besseres Verständnis ihrer Funktion sind einige Elfenbeinpuppen aus Gräbern in Rom von großer Bedeutung, die zusammen mit Schmuck und kostbaren Gegenständen deponiert wurden. Am bekanntesten sind die Elfenbeinpuppe von Crepereia Tryphaena (Abb. 4) sowie die aus der Via Grottarossa. Erstere wurde in der Gegend von Prati di Castello in einem Sarkophag gefunden, der zwischen 150 und 170 n. Chr. datiert werden kann. Die zweite Puppe aus der Via Grottarossa lag in einem Sarkophag, der aus der Zeit von 160 bis 180 n. Chr. stammt und die Mumie eines achtjährigen Mädchens enthielt. Eine weitere Elfenbeinpuppe und die Überreste eines zweiten Exemplars wurden im Hypogäum von Tor Cervara im Sarkophag eines sechs bis neun Jahre alten Kindes aus der Mitte des 3. Jhs. n. Chr. entdeckt.

Elfenbeinpuppe, gefunden in Rom, Prati di Castello, heute Bereich des Justizpalastes (H. 23 cm), drittes Viertel 2. Jh. n. Chr., Rom, Musei Capitolini, Centrale Montemartini.
Abb. 4 Elfenbeinpuppe, gefunden in Rom, Prati di Castello, heute Bereich des Justizpalastes (H. 23 cm), drittes Viertel 2. Jh. n. Chr., Rom, Musei Capitolini, Centrale Montemartini. akgimages / Pirozzi

Aus dem frühen 4. Jh. n. Chr. stammt ein in Trient freigelegtes Grab mit einem Bleisarkophag, der das Skelett eines 12 bis 13 Jahre alten Mädchens enthielt. Darin lag eine Elfenbeinpuppe mit Gliedmaßen aus Hirschgeweih und das Bein eines zweiten Exemplars. Auch in Rom wurde eine schöne Elfenbeinpuppe in einem Marmorsarkophag aus dem ersten Drittel des 4. Jhs. n. Chr. entdeckt, und zwar in einem Mausoleum auf der linken Seite der Basilica Apostolorum an der Via Appia.

Aus dem Gebiet des Römischen Reichs sind zwei Elfenbeinpuppen bekannt, die in die zweite Hälfte des 3. Jhs. n. Chr. datieren und aus einem in Emona (Ljubljana) gefundenen Sarkophag stammen. Eine weitere Elfenbeinpuppe aus dem späten 3. bis frühen 4. Jh. n. Chr. fand sich in Tarragona (Abb. 5). Sie lag im Sarkophag eines fünf bis sechs Jahre alten Mädchens. Ein Grab in Yverdon-les-Bains aus dem zweiten Drittel des 4. Jhs. n. Chr. enthielt zwei Elfenbeinpuppen.

Elfenbeinpuppe, gefunden in Tarragona, Nekropole San Fructuoso (H. 23 cm), Ende 3. bis Anfang 4. Jh. n. Chr. Tarragona, Museu Nacional Arqueològic.
Abb. 5 Elfenbeinpuppe, gefunden in Tarragona, Nekropole San Fructuoso (H. 23 cm), Ende 3. bis Anfang 4. Jh. n. Chr. Tarragona, Museu Nacional Arqueològic. akg-images / sfgp

Spätere Knochenpuppen wurden hauptsächlich in den Katakomben von Rom entdeckt, eingemauert in den Mörtel der Grabnischen, und datieren ins späte 3. und vor allem 4. Jh. n. Chr. So etwa eine Puppe in der Katakombe von Novaziano an der Via Tiburtina, eingemauert auf der linken Seite eines loculus (einer Nische für ein Körpergrab). Dieser wird von einer Marmorplatte mit einer Inschrift verschlossen, die sich auf ein kleines Mädchen, Hermofilis, bezieht, das nur ein Jahr, drei Monate und 14 Tage alt wurde. Noch Mitte des 5. Jhs. n. Chr. wurde eine schematisierte Knochenpuppe in das Grab eines fünf bis sechs Monate alten Säuglings gelegt, das sich auf dem Friedhof von Poggio Gramignano in der Gemeinde Lugnano in Teverina befindet. Offenbar dienten Gliederpuppen als Grabbeigaben für Mädchen unterschiedlichen Alters.

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