Völkerwanderungszeit im Norden

Der Begriff Völkerwanderungszeit beschreibt eine Phase großer Umbrüche. Europaweit lösten sich etablierte Strukturen auf, weite Gebiete fielen wirtschaftlich und politisch ins Chaos. Dank neuer Methoden kann die Archäologie Licht in das verwirrende, viel - schichtige Geschehen bringen.

Unser Titelbild zeigt Fragmente eines Spangenhelms aus der Peene bei Demmin im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Zum besseren Verständnis wurden die Teile auf den Helm von Gammertingen aus Südwestdeutschland montiert.
Unser Titelbild zeigt Fragmente eines Spangenhelms aus der Peene bei Demmin im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Zum besseren Verständnis wurden die Teile auf den Helm von Gammertingen aus Südwestdeutschland montiert.© Thilo Parg/Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0/ Bearb. L. Saalow

Die ehemalige dänische Königin und studierte Archäologin Margrethe II. bekannte anlässlich einer Ausstellungseröffnung im November 2022 freimütig, sie habe die Völkerwanderungszeit in ihrer Schulzeit nie richtig verstanden. Damit dürfte sie nicht alleine stehen. Das komplexe Geschehen, wie es die Geschichtsschreibung vermittelt, ist verwirrend und undurchsichtig; Fiktion und Legendenbildung tun ihr Übriges, um die Beschäftigung mit dieser Zeit zu erschweren. Die Archäologie bemüht sich seit Langem darum, dieser mitunter sehr fiktionalen Vorstellung von »der Völkerwanderungszeit « eine faktenbasierte Darstellung entgegenzusetzen. Erst seit relativ kurzer Zeit hat sie auch die Mittel dazu, mithilfe der Detektorprospektion, der Genetik, der Strontium- Isotopie und anderer avancierter Verfahren wirklich Licht ins Dunkel zu bringen. Und wie so oft tauchen daraus unerwartete Bilder auf, die Zweifel an den bisher als gesichert geltenden Interpretationen wecken.

Fiktion Völkerwanderungszeit?

Die Völkerwanderungszeit, wie wir sie aus der Schule kennen, steht aber auch aus anderen Gründen in Frage. Der Begriff suggeriert, dass sich »Völker« auf den Weg in neue Siedlungsgebiete machten – ein sehr vereinfachtes Bild, das die Frage völlig außer Acht lässt, als was sich die »Wandernden « selber empfanden und welche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen überhaupt bestanden. Sprachen sie eine Sprache, trugen sie die gleiche Tracht, teilten sie eine Religion oder bestimmte Traditionen in Siedlung, Hausbau oder Landwirtschaft? Die Vorstellung klar definierbarer »Völker«, die sich auf die Reise machen, greift auf jeden Fall zu kurz.

Goldbrakteaten
Goldbrakteaten Th. Storch, Rothenklempenow
Mit dem Einsatz von Metalldetektoren stieg die Zahl der Funde steil an: Bodendenkmalpfleger Peter Dachner zeigt einen gerade bei Pasewalk im Landkreis Vorpommern- Greifswald entdeckten Goldbrakteaten.
Mit dem Einsatz von Metalldetektoren stieg die Zahl der Funde steil an: Bodendenkmalpfleger Peter Dachner zeigt einen gerade bei Pasewalk im Landkreis Vorpommern- Greifswald entdeckten Goldbrakteaten. Th. Storch, Rothenklempenow

Zum anderen verdient das Bild eines einzigartigen Ereignisses eine Revision. Zwar bildeten sich nach der Völkerwanderungszeit in vielen Teilen Europas neue staatliche oder protostaatliche Strukturen heraus, die teilweise eine beachtliche Lebensdauer und Stabilität entwickelten. Die »Wanderungen« hörten aber nicht auf. Der idyllischen Vorstellung von einer Wanderung dürften die wenigsten davon entsprochen haben – viel häufiger waren es schiere Not und Gewalt, die Menschen auf eine Reise ins Ungewisse zwangen. Das gilt bis hin zu den großen Auswanderungswellen im 19. Jh. und zu den Vertreibungen und Deportationen des 20. Jh.

Genauso wenig wie »die Völkerwanderungszeit « die letzte ihrer Art war, war sie auch die erste. Schon für die früheste Menschheitsgeschichte lässt sich eine hohe Mobilität über große Entfernungen nachweisen, ebenso – mindestens – in der Bronzezeit und in der Römischen Kaiserzeit. Vieles spricht dafür, dass auch das nicht immer in Form friedlicher Wanderungen ablief. Ist es also menschliches Schicksal, dass es immer wieder zu »Völkerwanderungen « kommt, oder kann es doch gelingen, das menschliche Zusammenleben so einzurichten, dass niemand wegen Not und Gewalt seine Heimat verlassen muss? Diese Frage kann die Archäologie nicht allein beantworten, ihre Erkenntnisse zeigen aber, dass es offenbar nicht einfach ist, dieses erstrebenswerte Ziel zu erreichen.

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