Bahnbrechender Fund: Neandertaler betrieben bereits vor 125.000 Jahren „Fettfabriken“

Der Fundort Neumark-Nord 2 in Mitteldeutschland liefert die Beweise: Die dortigen Überreste stammen aus einer Warmzeit vor rund 125.000 Jahren, in der das Klima ähnlich war wie heute. Die Fundstelle lag inmitten einer Seenlandschaft. Die Forschenden fanden nun heraus, dass Neandertaler dort nicht nur Knochen aufbrachen, um an das Mark zu gelangen, sondern die Knochen großer Säugetiere in kleinste Fragmente zerschlugen, um daraus durch Erhitzen in Wasser energiereiches Knochenfett zu gewinnen. Diese Entdeckung verändert unser Verständnis von den Ernährungsstrategien der Neandertaler grundlegend und verschiebt den Beginn solch komplexer und arbeitsintensiver Ressourcenverwertung um Zehntausende von Jahren weiter zurück in die Vergangenheit. Die Ergebnisse der Forschung wurden in einer archäologischen Studie in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.

Ausgrabung an der Fundstelle Neumark-Nord. Zahlreiche Archäologinnen und Archäologen arbeiten an mehreren Profilen im anstehenden Erdreich
Ausgrabung an der Fundstelle Neumark-Nord 2/2B.© Roebroeks, Universität Leiden

Die neue Studie legt nahe, dass die Neandertaler an einem gezielt gewählten Seeufer eine Art prähistorische „Fettfabrik“ betrieben: systematisch wurden die Knochen von mindestens 172 Großsäugern wie Hirschen, Pferden und Auerochsen verarbeitet. Solche komplexen Praktiken galten bislang als typisch für deutlich spätere Menschengruppen – nun ist klar, dass sie bereits vor 125.000 Jahren zum Repertoire der Neandertaler gehörten.

„Das war intensiv, organisiert und strategisch“, erklärt Dr. Lutz Kindler, leitender Archäologe der Studie. „Die Neandertaler gingen äußerst planvoll vor – von der Jagd über den Transport der Kadaver bis hin zur Fettgewinnung an einem speziell dafür genutzten Ort. Sie wussten um den hohen Nährwert von Fett und verstanden, wie man es effizient zugänglich macht. Wahrscheinlich deponierten sie einzelne Körperteile an geschützten Stellen, um sie später gezielt zur Fettgewinnung an den See zu bringen.“

„Die Produktion von Knochenfett ist sehr arbeitsintensiv und lohnt sich nur, wenn ausreichend Material vorhanden ist“, ergänzt Co-Autorin Univ.-Prof. Dr. Sabine Gaudzinski-Windheuser, Leiterin von MONREPOS und Professorin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „Je mehr Knochen gesammelt wurden, desto ergiebiger und lohnenswerter war der Prozess.“

Planung und Vorratsdepots

Die archäologischen Funde aus Neumark-Nord sind außergewöhnlich gut erhalten: Über 120.000 winzige Knochenfragmente sowie mehr als 16.000 Feuersteinwerkzeuge und andere Artefakte wurden geborgen – die meisten davon aus einem eng begrenzten Bereich von nur 50 Quadratmetern. Zusammen mit Hinweisen auf den Gebrauch von Feuer deuten sie auf eine hochentwickelte, zielgerichtete Arbeitsweise hin, die sorgfältige Planung sowohl von Tätigkeiten als auch von Ressourcen erforderte.

Größere Knochenfragmente mit Schlagspuren und kleine Knochensplitter von der Fundstelle Neumark-Nord
Von vollständigen Knochen zu winzigen Fragmenten: An den Fundstellen Neumark-Nord 2/2B wurden die herbeigeschafften Knochen zunächst aufgeschlagen, um das Mark aus den Hohlräumen zu gewinnen (siehe A; Pfeile markieren die Schlagspuren eines Hammersteins auf einem Auerochsen-Oberarmknochen). Anschließend wurden die Knochen weiter zerkleinert und in kleinere Stücke gehackt (zu sehen in B bis F, ebenfalls aus dem in A gezeigten Oberarmknochen), um die Gewinnung von Fett aus dem schwammigen und kompakten Knochengewebe zu erleichtern. Etwa 2.000 winzige Knochenfragmente gerieten nach dem Auskochen unbeabsichtigt mit Feuer in Kontakt, was zu den typischen Farbveränderungen (von Dunkelbraun und Schwarz bis hin zu Weiß) und Strukturen führte, die man von erhitzten Knochen kennt. LEIZA-Monrepos / Lutz Kindler

Die Autorinnen und Autoren der Studie schreiben, dass die Neandertaler im Verlauf eines Jahres wiederholt in der Region Neumark-Nord jagten. Immer dann, wenn sie mehr Tiere erlegten, als sie unmittelbar verzehren konnten, lagerten sie vermutlich die überschüssigen Teile – darunter besonders fetthaltige Knochen – in Depots. Zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt, aber offenbar innerhalb einer vergleichsweise kurzen Phase, wurden diese Vorräte wieder eingesammelt und die zwischengelagerten Körperteile zum Fundort Neumark-Nord 2 gebracht, um dort Mark und Fett zu gewinnen. Solche Vorratsdepots (Caching) sind ein zentrales Element der Jägerlebensweise – sie ist bei allen ethnographisch dokumentierten Jägern und Sammlern in den mittleren bis nördlichen Breiten zu beobachten und war dort essenziell für das Überleben, da ohne gelagerte Nahrung das ganze Jahr über keine stabile Versorgung möglich gewesen wäre.

Großes Fundareal liefert einzigartigen Zugang zur Lebensweise der Neandertaler

Diese Entdeckung baut auf jahrzehntelanger Forschung am rund 30 Hektar großen Fundgebiet Neumark-Nord auf, das bereits in den 1980er Jahren vom Jenaer Archäologen Dietrich Mania entdeckt wurde. Im Jahr 2023 veröffentlichte das Forschungsteam Belege dafür, dass Neandertaler sogar Waldelefanten jagten und zerlegten – bis zu 13 Tonnen schwere Tiere, die über 2.000 Tagesrationen für Erwachsene liefern konnten. Der gezielte Einsatz von Feuer zur Veränderung der Vegetation sowie die Vielzahl verschiedener Tierarten, die an unterschiedlichen Stellen verarbeitet wurden, zeigen eine Planungstiefe und ein ökologisches Verständnis, das man den Neandertalern bislang kaum zugetraut hatte.

„Was Neumark-Nord so besonders macht, ist die Erhaltung einer ganzen Landschaft – nicht nur einer einzelnen Fundstelle“, betont Mitautor Wil Roebroeks, Professor an der Universität Leiden. „Wir sehen, wie Neandertaler in einem Gebiet Hirsche jagen und nur grob zerlegen, in einem anderen Elefanten intensiv verarbeiten – und wie in dieser Studie gezeigt – in einem zentralen Bereich Fett aus Hunderten von Säugetierknochen gewinnen. Es gibt sogar Hinweise auf die Nutzung von Pflanzen, was sich archäologisch nur selten erhalten hat. Diese Vielfalt an Verhaltensweisen innerhalb derselben Landschaft erlaubt uns ein deutlich umfassenderes Bild ihrer Kultur.“

Die Funde von Neumark-Nord verändern unser Verständnis von der Anpassungsfähigkeit und den Überlebensstrategien der Neandertaler grundlegend. Sie zeigen, dass Neandertaler vorausschauend planten, Nahrung effizient verarbeiteten und ihre Umwelt auf anspruchsvolle Weise nutzten.

Die Studie entstand unter Leitung von Archäologinnen und Archäologen des MONREPOS – Archäologisches Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution, einer Einrichtung des Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA), und der Universität Leiden (Niederlande), in Kooperation mit dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt.

Meldung LEIZA

Originalpublikation

Kindler et al.; Large-scale processing of within-bone nutrients by Neanderthals, 125,000 years ago, Science Advances 11, 2. Juli 2025.
https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adv1257

Neandertaler jagten Waldelefanten – Erster Beweis für Elefantenjagd durch den frühen Menschen

Vor etwa 15 Jahren hat ein Team italienischer Paläontologen das reichhaltige Elefantenmaterial vom Fundort Neumark-Nord untersucht. Es kam zu dem Schluss, dass es sich um eine merkwürdige Ansammlung handelt mit einem unausgewogenen Sterblichkeitsprofil – nämlich fast nur erwachsene Individuen – und einer auffälligen Dominanz männlicher Tiere. Dieses Muster wurde bisher weder bei fossilen noch bei heutigen Elefantenpopulationen beobachtet und war schwer zu erklären.

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