Etwa 30 km südlich von Paderborn im Herzen Westfalens liegt ganz im Süden des Naturparks Teutoburger Wald / Eggegebirge die kleine Stadt Lichtenau. Wenige Kilometer südwestlich des Ortes stößt man auf das fast vollständig erhaltene Kloster Dalheim. Seit dem Jahr 2007 beherbergen die alten Gebäude die Stiftung Kloster Dalheim mit Ausstellungsräumen des LWL-Landesmuseums für Klosterkultur, eines der 18 Museen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.
Das Kloster blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück. Im hohen Mittelalter war in Dalheim ein Frauenorden ansässig, der spätestens in der zweiten Hälfte des 12. Jh. dort seine Klosterkirche hatte. Das Frauenkloster wurde gegen Ende des 14. Jh. aufgegeben. 1492 begannen die Augustiner Chorherren des nahe gelegenen Klosters Böddeken bei Wewelsburg die Anlage in Dalheim wiederzubeleben. Nachdem Dalheim 1452 wieder den Rang eines selbständigen Klosters einnahm, entwickelte es sich in seiner barocken Blütezeit bald zum geistlichen und wirtschaftlichen Mittelpunkt des Paderborner Landes.
Seit Beginn der 1980er-Jahre wird das Klosterareal nun systematisch erforscht. Während sich die archäologischen Untersuchungen zunächst vorrangig auf die räumlichen Bestandteile und somit auf die Baugeschichte der Klosteranlage konzentrierten, folgte ab 1987 der Blick in den Untergrund mittels Ausgrabungen. Damit einhergehend begann die Suche nach dem Vorgängerbau der heutigen Anlage in der Südostecke des barocken Klosters, wo hinter einem alten Schafstall die Ruine der 1724 gegründeten Bartholomäuskapelle überdauert hatte. Hier, im Keller des Schafstalls, stieß man auf Spuren der frühesten Besiedlung auf dem ehemaligen Klosterareal, die bis in das 1. Jh. n. Chr. zurückgehen.
Die bei diesen Forschungen geborgenen archäologischen Funde deuten darauf hin, dass Dalheim bereits im 9. Jh. über eine kleine hölzerne Pfarrkirche mit angegliedertem Gemeindefriedhof verfügte. Diesen Friedhof untersuchten Mitarbeiter des Westfälischen Museums für Archäologie, heute LWL-Archäologie für Westfalen, in den Jahren 1989 bis 1990. Im Rahmen der in dieser Zeit durchgeführten Ausgrabungen konnten Überreste von insgesamt 151 Individuen geborgen werden, die von etwa 950 bis 1200 n. Chr. auf dem Friedhof bestattet worden waren.
Eines der untersuchten Individuen. Die seitliche Ansicht zeigt das obere und untere Gebiss in Okklusion. Starke Ablagerungen von Zahnstein sind an den oberen und unteren Molaren des linken Gebisses (ganz rechts) zu sehen. Höhe des Schädels ca. 19 cm.
A.Pedergnana
Nach Beendigung der Ausgrabungen wurde schon im Folgejahr eine anthropologische Studie durchgeführt, die wichtige Erkenntnisse zu Geschlecht und Alter der dort beigesetzten Personen erbrachte. Laut dieser Studie konnten 32 weibliche und 44 männliche Individuen identifiziert werden. Bei weiteren 75 Skeletten blieb das Geschlecht jedoch unbestimmt. Kurze Zeit später, in den frühen 2000er-Jahren, zeigte sich bei weiteren Untersuchungen, dass einige der Individuen degenerative Anzeichen an ihren Gliedmaßen aufwiesen: ein Umstand, der unweigerlich auf ein hohes Maß an harter Arbeit während des Lebens hindeutet. Aus diesem Grund liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Bewohnern der mittelalterlichen Gemeinde in Dalheim um Bauernfamilien handelte, die in der Umgebung der einstigen Holzkirche lebten und ihre Verstorbenen auf dem zugehörigen Friedhof beisetzten.
Im 14. Jh. wurde das ursprüngliche Kloster, dessen Geschichte oben kurz nachgezeichnet worden ist, durch eine Reihe gewaltsamer Beschädigungen bis auf die Grundmauern abgebrannt und zerstört. Die zerstörten Reste blieben nach der Neueinrichtung des Augustiner Chorherrenstifts im Jahr 1428 stehen und überdauerten so die Jahrhunderte bis in die Gegenwart als stumme Zeugen der mittelalterlichen Geschichte dieses Ortes. Zu dem ursprünglichen Kirchenkomplex, der auf dem heutigen Gelände überdauert hat, gibt es nur wenige historische Aufzeichnungen. Es wird angenommen, dass im 9. Jh. auf dem späteren Klostergelände eine dem Heiligen Petrus geweihte Steinkirche als Nachfolgerbau der oben erwähnten hölzernen Pfarrkirche errichtet und später erweitert wurde. Bei diesen Anbauten an die Kirche handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Einrichtungen für das mittelalterliche Frauenkloster, dessen genaues Gründungsdatum allerdings noch immer unbekannt ist. Es ist davon auszugehen, dass die hier während des hohen Mittelalters etwa im 11. und 12. Jh. lebenden Nonnen – genau wie die Dorfbewohner – ihre letzte Ruhe auf dem nahegelegenen Gemeindefriedhof fanden.
Zahnstein hat auch etwas Gutes
Gegenwärtig wird die anthropologische Sammlung der Funde aus Dalheim vom Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich unter der Leitung von Professor Frank Rühli verwaltet und im Rahmen eines EU-geförderten Projekts (TRIDENTUM) der dort ansässigen »Paleopathology and Mummy Studies Group« untersucht. Das Ziel ist es, mit Blick auf die Gebisse von insgesamt 40 ausgewählten Dalheimer Individuen dem Gesundheitszustand der mittelalterlichen Bewohner buchstäblich auf den Zahn zu fühlen. Zu diesem Zweck kommen modernste Diagnosetechniken wie beispielsweise die Computertomografie oder auch Röntgenuntersuchungen zur Anwendung. Da nicht bei jedem Individuum dieselbe Verfügbarkeit an biologischem Gewebe gegeben ist und die verschiedenen Proben ganz unterschiedlich gut erhalten sind, richtet sich die Anzahl der aus dieser Gruppe untersuchten Individuen automatisch nach der jeweiligen angewendeten Analysemethode.
Laboraufbau, in dem der Zahnstein entmineralisiert und die Proteine aufgeschlossen werden.
A. Pedergnana
In einem ersten Schritt wurden die Zähne aus einer ganzheitlichen Sicht untersucht. Dabei kamen verschiedene Analysen zum Tragen, mittels derer Erkrankungen im Mundraum der einzelnen Personen und darüber hinaus auch jene der mittelalterlichen Dalheimer Bevölkerung rekonstruiert werden konnten. Auch der Zahnstein wurde unter Erweiterung der Methoden untersucht: Dazu wurde eine eingehende proteomische Untersuchung durchgeführt. Mittels Proteomik versucht man, Proteine aus archäologischen Überresten zu identifizieren, um Einblick in Ernährung, Krankheiten und Lebensbedingungen früherer Populationen zu gewinnen. In nur neun Individuen wurden Proteine aus der Nahrung gefunden. In Dalheim wurden sowohl Pflanzen- als auch Fischproteine gefunden, was auf den Verzehr verschiedener Nahrungsquellen hinweist.
Starke Ablagerungen an Zahnstein auf der Außenseite der oberen Backenzähne.
A. Pedergnana
Mundhygiene nicht erst seit gestern
Bei der ausgewählten Gruppe von Personen hat man Krankheitsbilder erfasst, die im Mundraum anzutreffen sind. Zu diesem Zweck wurden insgesamt 299 Zähne aus Unterkiefern von 32 Individuen aus Dalheim untersucht. Besonderes Augenmerk lag hier darauf, den Grad der Zahnabnutzung zu bewerten. In diesem Zusammenhang galt es also, die Zerstörung des Zahnschmelzes zu erfassen, um auf diesem Weg die Art der verzehrten Lebensmittel und beispielsweise deren Festigkeit erschließen zu können. Nach diesen Untersuchungen weisen die auf uns gekommenen Überreste der Dalheimer Individuen unterschiedliche Abnutzungsgrade der Zähne auf, die von »nicht vorhanden« bis hin zu »extrem stark« reichen. Im Allgemeinen lässt sich erkennen, dass der Zustand bei den einzelnen Personen mit zunehmendem Alter schlechter wird. Das Ausmaß der Zahnabnutzung bei einigen Individuen, darunter sogar einige junge Erwachsene, deutet darauf hin, dass die mittelalterliche Dalheimer Bevölkerung bis zu einem gewissen Grad sehr harte oder zumindest faserige Nahrungsmittel konsumierte. Im Mittelalter wurde das Mehl mit Mühlsteinen gemahlen. Dabei konnten kleine Steinpartikel freigesetzt werden, die dann in das Mehl gelangten und später beim Kneten in das Brot eingearbeitet wurden. Getreide wie Weizen, Gerste, Hafer, Roggen und Besenmais wurden häufig für die Zubereitung von Brot, Brei oder Suppe verwendet.
Stark abgenutzte Zähne sprechen für harte oder faserige Nahrung.
A. Pedergnana
Darüber hinaus wurde auch das Ausmaß der Zahnkaries untersucht. So konnten kariöse Läsionen bei 34,4 Prozent der untersuchten Personen gefunden werden, was einer Gesamtzahl von 11 Individuen entspricht. Dabei waren keine Unterschiede in der Karieshäufigkeit zwischen den Geschlechtern festzustellen, was darauf hindeutet, dass Männer und Frauen gleichen Zugang zu den verschiedenen Nahrungsmitteln hatten. Die relativ niedrige Karieshäufigkeit in der Dalheimer Bevölkerung spricht für einen mengenmäßig geringen Verzehr von einfachen Kohlenhydraten. Vor der weit verbreiteten Herstellung von Zucker bestanden einfache Kohlenhydrate hauptsächlich aus Honig und Früchten. Honig war zusammen mit Pastinake (Pastinaca sativa) das wichtigste Süßungsmittel für Angehörige der Unterschicht. So wurde Honig beispielsweise als Konservierungs- oder Aromastoff und als Heilmittel gegen verschiedene Krankheiten verwendet. Er wurde der Milch zugesetzt, um sie besser verdaulich zu machen, und zur Herstellung von Lebkuchen verwendet. Zudem war Honig eines der Hauptbestandteile desjenigen alkoholischen Getränks, das Met genannt wurde und bereits den Römern bekannt war.
Das geringe Auftreten von Karies in dieser Bevölkerung könnte auch ein Hinweis auf bestimmte Praktiken zur Mundhygiene sein. In einigen mittelalterlichen Abhandlungen werden die besten Verfahren zur Reinigung der Zähne beschrieben, darunter die Verwendung von rauen Tüchern und Lappen, um nach jeder Mahlzeit die Speisereste zu entfernen. Es gibt auch Aufzeichnungen über Rezepte für Pasten, Pulver und Mundspülungen, die zum Aufhellen und Reinigen der Zähne verwendet wurden. Vor allem verschiedene Heilkräuter, die meist in Klöstern geerntet wurden, dienten als Hauptbestandteile zur Behandlung von Zahnschmerzen und Unwohlsein. Einige Bestandteile von Mischungen, die zur Reinigung der Zähne oder zur Behandlung von Zahnschmerzen verwendet wurden, seien hier aufgeführt: Ingwer, Minze, Salbei, Absinth, Brennnessel, Birke, Oregano, Rosmarin und Pfeffer.
Arthrose und Alter
Unter Ante-Mortem-Zahnverlust versteht man das Ausfallen von Zähnen im Laufe des Lebens einer Person. Das Ausfallen noch vor dem Tod lässt sich nachweisen anhand der Resorption des Alveolarknochens, also dem Verschluss der Hohlräume, in denen die Wurzeln der Zähne verankert waren. Verlust der Zähne wird durch das Fortschreiten einer Reihe von Zahnkrankheiten verursacht. Hierzu zählen beispielsweise Karies, Parodontitis oder auch der falsche Zusammenbiss beziehungsweise Kieferschluss. In der untersuchten Gruppe gingen im Laufe des Lebens 58 Zähne verloren, und der Zahnverlust vor dem Tod betraf die Geschlechter gleichermaßen. Zudem wurden die Gelenkteile des Unterkiefers auf Arthrose hin untersucht. Diese degenerative Gelenkerkrankung ist häufig an menschlichen Überresten festzustellen, die aus archäologischen Kontexten stammen. Arthrose kann auch die Unterkieferkondylen betreffen, das heißt den Teil des Kiefergelenks, der die Bewegungen des Unterkiefers während des Kauens ermöglicht. Es wurden sowohl Scans im Computertomografen als auch Röntgenaufnahmen der Kondylen angefertigt. Die Degenerationserscheinungen in den Gelenken werden dann einzeln auf den Röntgenbildern beurteilt, um eine Diagnose stellen zu können.
Unterkiefer aus Dalheim werden in der Universität Zürich untersucht.
A. Pedergnana
Osteoarthritis wurde bei sieben Personen diagnostiziert, von denen vier erwachsen und drei schon in einem fortgeschrittenen Alter waren. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass die Osteoarthritis auf eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten zurückzuführen ist. Die Manifestation dieser Krankheit im mittelalterlichen Dalheim hängt höchstwahrscheinlich mit dem physiologischen Prozess des Alterns zusammen. Die Radiologie ist in der Zahnanthropologie sehr wichtig, da mithilfe dieser Methode spezifische Diagnosen möglich werden und wir besser die Auswirkungen bestimmter Krankheiten bewerten können. Archäologie und Anthropologie sind daher auf die Hilfe entsprechender Fachleute angewiesen: Multidisziplinäre Studien bleiben von grundlegender Bedeutung für die Rekonstruktion des gesundheitlichen Zustands früherer Bevölkerungen.
Dreidimensionale Rekonstruktion des Unterkiefers einer Person in fortgeschrittenem Alter (senil).
A. Pedergnana
Die Röntgenbilder zeigen das von Arthrose betroffene linke Unterkiefergelenk.
A. Pedergnana