Die Geschichte der Archäologie wird oft als lineare Entwicklung «großer » Archäologinnen und Archäologen, also Einzelpersonen, und «ihrer» Entdeckungen erzählt. Die Archäologie erforderte jedoch schon immer enge Zusammenarbeit im Team, in der Feldforschung und auch in der Interpretation und Veröffentlichung von Funden. Die Reihe «Im Schatten der Großen» stellt Personen vor, welche wichtige Beiträge zur Archäologie geleistet haben, in offiziellen Geschichten aber oft nur am Rande vorkommen: Abenteurer, Sekretärinnen, Ehefrauen, Vorarbeiter, Antiquitätenhändler oder Geldgeber. Sie alle haben einen Platz in der Geschichte der Erforschung der alten Welt, denn ohne ihre Unterstützung und Förderung blieben viele der wichtigsten Entdeckungen und Funde weiterhin unbekannt, unveröffentlicht oder aus Geldmangel gar nicht erst ausgegraben.
Im ersten Beitrag treffen wir Frederick Albert Mitchell-Hedges (1882– 1959), Lady Lilian Alice Mabel Richmond Brown (1885–1946) und den britischen Kolonialarzt Thomas William Francis Gann (1867–1938). Die Abenteurer, Großwildjäger und Ausgräber erforschten in den 1920er- Jahren eine Maya-Stadt der Spätklassischen Zeit (ca. 700–900 n. Chr.) in Britisch-Honduras, gerieten danach jedoch weitgehend in Vergessenheit. Dazu trug nicht nur ihre unprofessionelle Vorgehensweise bei der Grabung bei, sondern auch Mitchell-Hedges‘ Tendenz zur Übertreibung der durchgemachten Gefahren sowie seine später als pseudowissenschaftlich und sogar gefälscht entlarvten Befunde. Dieser Artikel möchte dennoch den Beitrag Mitchell-Hedges‘, Richmond Browns und Ganns zum heutigen Wissensstand über die Maya nicht werten, denn die Archäologie baut weiterhin auf ihren Funden auf. Wichtig bleibt es, die Verflechtung der Archäologie mit dem Kolonialismus aufzuzeigen und aufzuarbeiten.
Ein unstetes Leben
Mitchell-Hedges (1882–1959) entstammte der gutbürgerlichen englischen Mittelklasse und durchlief eine dafür typische Jugend mit Besuch einer Privatschule und danach Eintritt in die Maklerfirma, in welcher sein Vater arbeitete (Abb. 1). Eher untypisch für ein spätviktorianisches Leben war das Auslassen des damals üblichen Universitätsabschlusses – aber Mitchell- Hedges spürte schon früh den Ruf des Abenteuers und das monotone Leben in der Londoner City passte nicht zu ihm. Er fühlte sich eingeengt und eingezwängt, und irgendwann zwischen 1901 und 1903 schiffte er sich nach Amerika ein. Laut seiner Autobiografie verkehrte er dort mit Millionären wie J. P. Morgan und Jules Bach und gewann und verlor tausende von Dollars als Spieler und Börsenmakler. Aber auch im «Dschungel» Manhattans fühlte sich Mitchell-Hedges fehl am Platz und als Außenseiter, es zog ihn nach Süden, in die mystische Welt des richtigen Dschungels Mittelamerikas, zu den Ureinwohnern, der Großwildjagd und «verlorenen» Städten.
Zuerst kehrte er jedoch nach London zurück und unternahm erneut einen Versuch, sich als Geschäftsmann in die Gesellschaft einzufügen. Schon 1912 ging seine Maklerfirma jedoch in Konkurs und hier begann das Abenteuer erst so richtig. Im Verlauf der nächsten zwanzig Jahre verfasste Mitchell- Hedges zahlreiche Reiseberichte, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, später auch eine Autobiografie, und hielt öffentliche Vorlesungen (auch im damals ganz neuen Medium des Radios). Seine Funde verkaufte und verschenkte er vor allem an Museen in Großbritannien und den USA, wo sie sich größtenteils noch heute befinden. Die Verlässlichkeit seiner Angaben über Fundorte und die Echtheit seiner Objekte wurde schon zu seinen Lebzeiten oft angezweifelt, vor allem, was einen seiner kontroversesten Funde betrifft: den «Mitchell-Hedges Kristallschädel ». Aber hierzu später mehr.
Von 1913 bis 1920 führt er ein unstetes Leben zwischen den USA, Mexiko und Großbritannien und schlug sich als Handlungsreisender, Kellner und Diamantenhändler durch. Seine angebliche Gefangennahme durch den mexikanischen Revolutionär Pancho Villa 1913 unter dem Verdacht, ein amerikanischer Spion zu sein, bleibt durch Nachforschungen ebenso unbestätigt wie seine kurze Bekanntschaft mit Lew Dawidowitsch Bronstein, besser bekannt unter dem Namen Leo Trotzki, mit welchem er sich laut eigenen Angaben 1917 in New York für kurze Zeit eine Wohnung teilte. Die wohl bedeutendste Begegnung in diesen Jahren war jedoch ein zufälliges Zusammentreffen mit Lady Richmond Brown 1919 oder 1921. Auch sie war auf der Suche nach Abenteuern, aber finanziell bedeutend bessergestellt als Mitchell-Hedges. Unter der Bedingung, ihn begleiten zu dürfen, übernahm sie die Hälfte der Kosten für seine geplante Reise nach Zentralamerika für die Jagd auf Riesenfische.
Dieses ungewöhnliche Duo – ein unbeständiger Weltenbummler und eine Angehörige der englischen Gentry – setzte sich über die Konventionen der Gesellschaft hinweg und machte sich auf die Suche nach Abenteuern. Dennoch waren Mitchell-Hedges und Richmond Brown keineswegs als Außenseiter angesehen, auch wenn ihre Berichte über den Fang von Riesenfischen von bis zu 5700 Pfund Gewicht und das Erlegen von über 50 Krokodilen in einer Nacht oft fantastisch anmuteten (Abb. 2). Ihre Reiseberichte und Fotografien dieser ersten Reise von 1921 bis 1923 – exklusiv veröffentlicht in der Daily Mail, damals eine der größten Zeitschriften Großbritanniens mit einer Auflage von über einer Million – und die mitgebrachten Exemplare für das Naturhistorische Museum und den Londoner Zoo führten zu Mitgliedschaften beim Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland sowie der Zoological Society of London, für Frauen damals noch eine außergewöhnliche Ehrung.
Abb. 2 Mitchell-Hedges und Richmond Brown mit einem 5700 Pfund schweren Sägerochen, erlegt auf ihrer ersten gemeinsamen Reise 1921–1923.
akg-images / UIG / Universal History Archive
Der populäre, kommerzielle sowie auch wissenschaftliche Erfolg dieser Reise öffnete weitere Türen für Mitchell- Hedges und Richmond Brown. Das Forscherpaar entschloss sich auf der nächsten Reise, verlorene Städte im Dschungel Britisch-Honduras‘ zu suchen, und in Begleitung von Thomas Gann reisten sie 1924 erneut nach Mittelamerika.
Der Ort der gefallenen Steine
Gann hatte von 1884 bis 1923 als Kolonialarzt für die britische Verwaltung in Britisch-Honduras, dem heutigen Belize, gearbeitet (Abb. 3). Nebenbei erwarb er sich einen Ruf als Koryphäe in der Maya-Forschung und stand in Verbindung mit der Universität Liverpool. 1903 hatte er eine verfallene Stadt im Süden Belizes im Auftrag des britischen Gouverneurs besucht und darüber einen Bericht veröffentlicht, welcher zu einer kurzen Erforschung der Stadt durch das Peabody Museum der Harvard University 1915 führte (Abb. 4). Eine schon bekannte Stadt zu erforschen war jedoch nicht so spektakulär wie die «Entdeckung» einer verlorenen Zivilisation, und so behauptete Mitchell-Hedges in allen seinen Publikationen nach 1924, dass es sich um eine neu gefundene Stätte handle. Weshalb Gann diesem Vorgehen zustimmte, obwohl er «seine» Entdeckung schon 1905 veröffentlicht hatte, bleibt unklar.
Abb. 3 Karte Zentralamerikas von 1902.
akg-images / Universal Images Group / Universal History Archive
Der ursprüngliche Name der Stadt, welche in der Spätklassischen Zeit von den Maya (ca. 700–900 n. Chr.) errichtet worden war, ist der Forschung nicht bekannt, vor allem, da sich auch bei keiner der späteren Grabungen irgendwelche Texte fanden. Der Name «Lubaantun», was in der Sprache der Maya «Ort der gefallenen Steine» bedeutet, wurde laut ihren eigenen Angaben von den drei Europäern gemünzt. Ob es sich dabei um eine von den in der Region lebenden Q‘eqchi‘- Maya benutzte Bezeichnung handelte oder wirklich um einen neuen Namen, bleibt unbekannt.
Abb. 4 Raymond E. Merwin (Mitte) und zwei unbekannte Personen 1914/1915 in Lubaantun im Auftrag des Peabody Museum (Harvard Universität).
Courtesy of the Peabody Museum of Archaeology and Ethnology, Harvard University, 2004.24.10000
Ob die Stadt jemals «verloren» war, ist zu bezweifeln. Den Maya, welche Mitchell-Hedges und seinen Begleitern den Weg dorthin zeigten, war der Ort natürlich schon längst bekannt. Ihr Wissen und ihre Verbindung zu ihren Vorfahren und deren Hinterlassenschaft besaßen jedoch nicht denselben Stellenwert wie im Auftrag der Kolonialverwaltung oder der europäischen Wissenschaft erworbene Informationen. Die Beziehung der drei Europäer zu den Maya war denn auch von Ambivalenz geprägt: Mitchell- Hedges und Richmond Brown sprachen weder Spanisch noch eine der Maya-Sprachen, waren jedoch von den Maya abhängig als Arbeiter, Köchinnen und Führer durch den Dschungel. Andererseits wurde deren Wissen um die Flora und Fauna und das Leben im Dschungel als Aberglaube abgetan. Die Lebensweise der Maya beschrieben alle drei Europäer in ihren Büchern und Berichten als degeneriert, primitiv und verfallen. Ein Recht auf Mitbestimmung, was mit den ausgegrabenen Objekten und den geplünderten Gräbern geschehen sollte, wurde ihnen nicht zuerkannt.
Die Europäer interessierten sich vor allem für Objekte aus Gräbern, also Keramik, figürliche Objekte und Schmuck, welche sich gut an Museen und Sammler verkaufen ließen und Aufsehen in der Presse erregen würden. Ein Fundkatalog oder sonstige Aufzeichnungen Mitchell-Hedges‘ oder Richmond Browns sind nicht überliefert, sodass die genauen Fundumstände für die meisten Objekte nicht mehr rekonstruierbar sind. Allein im British Museum befinden sich über 700 von Mitchell- Hedges erworbene Objekte. Auch das National Museum of the American Indian in New York hat bis heute über 300 archäologische und ethnographische Objekte in seiner Sammlung.
Noch zwei weitere Male reiste Mitchell- Hedges nach Lubaantun: 1925 erneut mit Lady Richmond Brown und Thomas Gann mit finanzieller Unterstützung des British Museum und der Daily Mail und 1926 unter der Leitung von Thomas Athol Joyce, Kurator am British Museum. Erst 1970 jedoch wurde Lubaantun vom Peabody Museum der Universität Harvard systematischer erforscht und die Bedeutung der Stadt als wichtiges religiöses und kulturelles regionales Zentrum der Spätklassischen Zeit erkannt (Abb. 5).
Abb. 5 Markstein für einen Ballspielplatz, Peabody Museum Expedition: R. E. Merwin and A. W. Carpenter, 1914–1915.
Courtesy of the Peabody Museum of Archaeology and Ethnology, Harvard University, 15-73-20/C7616
Ungefähr 1930 trennen sich die Wege von Mitchell-Hedges und Richmond Brown, obwohl er noch 1931 in ihrem Scheidungsverfahren als ihr Liebhaber genannt worden war. Er unternahm in den 1930er-Jahren weitere Reisen nach Mittelamerika, meist in Begleitung seiner Adoptivtochter, immer auf der Suche nach neuen Entdeckungen und neuen Abenteuern. Vor allem die Islas de la Bahía, eine Inselkette vor der Küste Honduras, faszinierten ihn und er war überzeugt, dort Spuren der Überlebenden des Untergangs von Atlantis gefunden zu haben. Irgendwann in den 1930er-Jahren erwarb er wahrscheinlich auch das Objekt, für welches er einerseits einen gewissen Nachruhm erwarb, welches aber andererseits wahrscheinlich dazu führte, dass er nur selten in der Geschichte der archäologischen Forschung erwähnt wird: der «Schädel des Schicksals».
Die Verkörperung alles Bösen oder eine Fälschung?
Wann genau, wo und wie er den Kristallschädel erwarb, der zahlreiche Legenden und Theorien – auch von Vertretern der Prä-Astronautik – förderte und einen Indiana-Jones-Film inspirierte, muss wohl für immer unklar bleiben (Abb. 6). Gemäß einer Version entdeckte Mitchell-Hedges‘ Adoptivtochter ihn 1924 in Lubaantun. Sie war jedoch auf dieser Reise gar nicht dabei und er erwähnt weder sie noch den Kristallschädel in seinen Artikeln aus dieser Zeit, sondern erst in seiner Autobiografie von 1954. Dort nennt er ihn den «Skull of Doom»: den Schädel des Schicksals oder des Verhängnisses und die Verkörperung alles Bösen. Mit Hilfe des angeblich 3600 Jahre alten Objekts hätten Maya-Priester während esoterischer Riten den Tod herbeiführen können. Laut der amerikanischen Forscherin Jane McLaren Walsh handelt es sich jedoch – wie bei den meisten Kristallschädeln – um eine Fälschung des 19. oder 20. Jhs. Die präkolumbianischen Kulturen Amerikas besaßen keine Metallwerkzeuge und schon gar nicht rotierende Bohrer, deren Spuren durch mikroskopische Untersuchungen nachgewiesen wurden, für die Verarbeitung dieses harten Minerals.
Abb. 6 Kristallschädel, wahrscheinlich handelt es sich bei allen Schädeln dieser Art, die im 19. Jh. im Antiquitätenhandel erschienen, um moderne Fälschungen.
akg-images / WHA / World History Archive
Ein schwieriges Erbe
Die Verflechtung zwischen Kolonialherrschaft, Schatzsuche und Archäologie zeigt sich am Beispiel dieser drei Abenteurer und Ausgräber besonders stark auf. Ihre Methoden entsprachen keinesfalls heutigen (und auch nicht zeitgenössischen) Standards der Feldforschung, Ausgrabung oder Fundverarbeitung und dennoch gehören ihre Abenteuer ebenso wie ihre Funde zur Geschichte der Archäologie. Ob Lubaantun ohne Mitchell-Hedges‘ und Richmond Browns Artikel in der englischen Presse später besser ausgegraben worden wäre, muss natürlich Spekulation bleiben.