«Wann werde ich aufhören zu staunen?», soll Galileo Galilei sich gefragt haben, als er die Sterne am Himmel betrachtete. Dasselbe könnte heute ein Archäologe in Herculaneum sagen, wenn er stattdessen 20 m tief unter seinen Füßen blickt. Es stimmt, die Arbeit hier ist äußerst mühsam: Um nur einen Quadratmeter freizulegen, müssen ganze 20 m³ Lava und vulkanischer Tuff entfernt werden. Doch wie viele Überraschungen erwarten einen danach!
Die Reihe sensationeller Entdeckungen setzt sich fort – dazu gehören nicht nur neue Funde, sondern auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse.
Bereits seit dem 18. Jh. hat man versucht, die in der Villa dei Pisoni gefundenen Papyri zu öffnen oder vielmehr zu entrollen. Ein Gelehrter jener Zeit, Pater Antonio Piaggio, erfand sogar eine Maschine, um die verkohlten Schriftrollen auseinanderzufalten. Der Prozess bestand aus mehreren Schritten: Zunächst wurden die Papyri mit pflanzlichen Klebstoffen aufgeweicht, dann mit Seidenfäden an Ringen der Maschine befestigt. Diese hielt die Rollen unter Spannung und ermöglichte so ihr vorsichtiges Abwickeln. Nach dem Öffnen der Schriftrollen begann die mühsame Arbeit des Abschreibens, Deutens und Übersetzens. Besonders problematisch war, wie langsam und aufwendig dieser Prozess war – und wie groß die Gefahr, dass die empfindlichen Papyrusstreifen rissen oder, schlimmer noch, aneinander kleben blieben. Trotzdem blieb diese Maschine bis in die erste Hälfte des 20. Jhs. das einzige wirklich brauchbare Hilfsmittel, um die Rollen zu öffnen. Sie wurde sogar noch in den 1980er-Jahren eingesetzt, als ein norwegisches Forscherteam um den Altphilologen Knut Kleve eine neue Methode entwickelte: Die Papyri wurden in eine Lösung aus Wasser, Essig und pflanzlicher Gelatine (ähnlich einem modernen Brühwürfel) getaucht, um sie aufzuweichen und anschließend zu entrollen.
Doch dann änderte sich alles, als die Archäologie Unterstützung von moderner Technologie suchte. Mithilfe der Computertomographie und ihrer 3D-Bildgebung gelang es kürzlich, einen Papyrus virtuell zu entrollen. Darüber hinaus haben Algorithmen der künstlichen Intelligenz dazu beigetragen, bislang unbekannte Textstellen in den Papyri sichtbar zu machen. Konkret wurde hierbei die Computertomographie, eine Technik aus der Medizin, eingesetzt. Speziell entwickelte Algorithmen analysieren die Daten und ermöglichen das virtuelle Entrollen der Schriftrollen. Diese Technik nutzt Synchrotronstrahlung, um den Kontrast zwischen der Schrift und dem Papyrus zu verstärken, sodass der Text besser erkennbar wird. Die entzifferten griechischen Texte, die von Philologen interpretiert wurden, verleihen nun den griechischen Philosophen der Epikureischen Schule und ihren bislang unbekannten Werken wieder eine Stimme. Bislang konnten die griechischen Wörter «Lila» und «Verwirrung» identifiziert werden. Mit weiteren Fortschritten dieser Technik könnte unser Wissen über klassische Literatur und antike Philosophie erheblich bereichert werden.
Zu den jüngsten Entdeckungen aus Herculaneum zählt das «verglaste Gehirn» – ein weltweit einzigartiges Phänomen. Die natürliche Verglasung tritt auf, wenn organisches Material extremen Temperaturschwankungen in sehr kurzer Zeit ausgesetzt ist. Ein vergleichbarer Prozess ist aus der Vulkanologie bekannt: Wenn heiße Lavamassen plötzlich mit Meerwasser in Kontakt kommen, kühlen sie abrupt ab und verglasen zu Obsidian, dem sog. vulkanischen Glas.
Ein ähnlicher Vorgang ereignete sich in Herculaneum im Jahr 79 n. Chr.: Bei der Untersuchung eines Skeletts im Collegium Augustalium fanden Forscher Hinweise darauf, dass der Verstorbene zunächst von einer rund 700 °C heißen Glutwolke getroffen wurde, gefolgt von einer zweiten Welle mit etwa 500 °C. Diese rasche Temperaturdifferenz von rund 200 Grad führte zur spontanen Verglasung des Gehirngewebes. Naturwissenschaftliche Analysen des Fundes zeigten, dass nicht die späteren pyroklastischen Ströme, sondern eine extrem heiße Aschewolke, die kurz nach Ausbruch des Vesuvs die Stadt erreichte, die Ursache für dessen Verglasung war. Somit bietet das «verglaste Gehirn» nicht nur neue Einblicke in den Ablauf der Katastrophe, sondern liefert auch wertvolle Informationen für den modernen Katastrophenschutz.
Die Erforschung Herculaneums bringt bis heute neue Erkenntnisse ans Licht – ein guter Anlass, sich eingehender mit dieser außergewöhnlichen Stadt der Antike zu beschäftigen.