Das Heiligtum der Artemis von EphesosVon seinen bescheidenen Anfängen zu einem Weltwunder der Antike

Das Artemision war das Hauptheiligtum von Ephesos. Artemis war die Schutzherrin der Stadt. Nach dem lokalen Mythos wurde die Göttin, die hier den Beinamen «Ephesia» trug, im nahen Ortygia auf ephesischem Territorium geboren. Ihr Kult strahlte weithin in die griechisch-römische Mittelmeerwelt aus: «Alle Städte verehren die Artemis von Ephesos», stellte der Reiseschriftsteller Pausanias im 2. Jh. n. Chr. fest.

Abb. 1 Artemision von Ephesos. Luftaufnahme der sichtbaren Überreste der sechs aufeinander folgenden Tempel der Artemis Ephesia.
Abb. 1 Artemision von Ephesos. Luftaufnahme der sichtbaren Überreste der sechs aufeinander folgenden Tempel der Artemis Ephesia.© ÖAW–ÖAI / N. Gail

Die Anfänge des Heiligtums in der frühen Eisenzeit waren bescheiden. Bereits im 10. Jh. v. Chr. brachte man Tieropfer dar und verzehrte das Fleisch danach in gemeinsamen Opfermählern unter freiem Himmel. Damals gab es noch keinen Tempel, und der heilige Bezirk, der im Mündungsbereich eines Flusses lag, war klein.

Das Kultbild und der erste Tempel

Das änderte sich in der Mitte des 7. Jhs. v. Chr., als die Ephesier erstmals einen Tempel für ihre Artemis errichteten, den Naos 1. Er barg das xoanon, das geschnitzte Kultbild der Göttin, das wohl zu jener Zeit geschaffen wurde. In der Antike hielt man diese Statue allerdings für wesentlich älter. Der hellenistische Dichter Kallimachos überliefert die Gründungslegende des Heiligtums: Die Amazonen, sagenhafte Kriegerinnen der mythischen Vorzeit, wurden in Westkleinasien als positive Gestalten gesehen. In Ionien galten sie als Gründerinnen einiger Städte und Heiligtümer, so auch des Artemisions in Ephesos. Durch diesen Mythos wurde der Aufstellungsort des xoanon geheiligt und als kultischer Mittelpunkt des Heiligtums festgelegt. Der Tempel war an diese Stelle gebunden: Er konnte zwar vergrößert, aber nicht verlegt werden, obwohl das feuchte Gelände als Baugrund Probleme bereitete. Sechs Tempel wurden nacheinander vom 7. bis zum 4. Jh. v. Chr. errichtet (Abb. 1). Bei allen stand das Kultbild trotz der unterschiedlichen Grundrisse stets an derselben Stelle (Abb. 2).

Abb. 2 Der zweite Tempel der Artemis, ca. 640–620 v. Chr.
Abb. 2 Der zweite Tempel der Artemis, ca. 640–620 v. Chr. © ÖAI-ÖAW / Entwurf: M. Kerschner, Ausführung: I. Benda-Weber

Schon der erste Tempel, der Naos 1, war für seine Zeit ein beachtlicher Bau. Die Mauern der Cella wurden ganz aus Kalkstein errichtet, während andernorts früharchaische Tempel zumeist Wände aus Lehmziegel hatten. Eine Besonderheit war der umlaufende Kranz aus Holzstützen. Der Naos 1 ist einer der frühesten griechischen Tempel, der mit einer solchen peristasis ausgestattet war, die später zu einem Markenzeichen griechischer Tempel wurde.

Der Naos 1 wurde bald von einer Überschwemmung schwer beschädigt und anschließend wiederaufgebaut. Unter dem Boden dieses erneuerten Tempels, des Naos 1a, wurde kurz nach der Mitte des 7. Jhs. v. Chr. ein großer zusammenhängender Fundkomplex, der sog. Hortfund, deponiert, der etwa 1500 kleinformatige Artefakte aus wertvollen Materialien umfasste. Das Prunkstück darunter war ein für Ionien einzigartiger Gürtel aus Bernstein, gefertigt aus annähernd 440 Einzelteilen (Abb. 3). Er wurde lokal hergestellt, folgte jedoch Vorbildern aus dem südlichen Italien. Dieser Hortfund kann als Bauopfer gedeutet werden, das in Zusammenhang mit der Wiedererrichtung deponiert wurde.

Abb. 3 Rekonstruktion des Bernsteingürtels, deponiert ca. 650/40 v. Chr.
Abb. 3 Rekonstruktion des Bernsteingürtels, deponiert ca. 650/40 v. Chr. © ÖAW-ÖAI / A. Naso, digitale Bearbeitung: N. L. Saldalamacchia

Der zweite Tempel und ein reiches Bauopfer

Der zweite Tempel – Naos 2 – besaß keinen Säulenkranz mehr (vgl. Abb. 2). Sein Innenraum wurde von einer großen Basis beherrscht, auf der vermutlich das xoanon stand. Diese aus sorgfältig behauenen Grünschieferblöcken gebaute Basis enthielt in ihrem Inneren einen überaus reichen Schatz, das sog. foundation deposit. Diese bereits 1904/1905 entdeckte einheitliche Deponierung enthielt an die 1000 Objekte, v. a. Schmuck, aus wertvollem Material wie Gold, Silber, Elektron, Elfenbein und Bernstein. Besondere Erwähnung verdienen mehrere menschliche Figuren und Darstellungen von verschiedenen Tieren aus Gold und Silber. Das häufigste Motiv dabei ist der Raubvogel, der als heiliges Tier der Göttin galt und in Form von Anhängern, Statuetten und Fibeln vertreten ist. Diese überaus reiche Ansammlung an Objekten wurde intentionell – wie der schon erwähnte Hortfund des Vorgängertempels – als Bau- oder Gründungsopfer bei der Errichtung des Naos 2 niedergelegt.

In die gleiche Zeitspanne, genauer in das dritte Viertel des 7. Jhs. v. Chr., fällt eine weitere wertvolle Deponierung als Teil des Bauopfers dieser Tempelphase. Die 17 Elektronmünzen, die in einem Tonkrug aufbewahrt und in situ gefunden wurden, sind als sog. pot hoard in die Forschung eingegangen. Insgesamt sind aus dem Artemision über 100 Elektronmünzen bekannt (Abb. 4). Da ihre Fundkontexte gut datiert sind, kommt ihnen eine außerordentliche Bedeutung bei der Datierung der frühen Münzprägung zu.

Abb. 4 Elektronmünzen mit Darstellung eines Löwen und eines Keilers, spätes 7. Jh. v. Chr.
Abb. 4 Elektronmünzen mit Darstellung eines Löwen und eines Keilers, spätes 7. Jh. v. Chr. © ÖAW–ÖAI / N. Gail 

Ähnlich reiche Deponierungen vom Ende des 7. Jhs. v. Chr. fanden sich an anderen Stellen des Heiligtums. Dazu zählt eine einzigartige sog. Bockgesichtsperle, eigentlich ein Anhänger in Form eines grotesken Gesichts (Abb. 5). Sie wurde aus blauem Glas hergestellt und mit gelblich-beigen Glasfäden verziert. All diese Gaben an die Gottheit, die das Bauopfer vereint, waren Ausdruck des persönlichen Glaubens, aber zugleich auch Prestigeobjekte, die auf wohlhabende Spender deuten, die am Bau des Tempels beteiligt waren.

Die raumfüllende Größe der Kultbildbasis im Naos 2 ist ebenso ungewöhnlich in frühgriechischen Tempeln wie ihre Funktion als Aufbewahrungsort für einen überaus reichen Tempelschatz. Stil und Materialien zahlreicher darin deponierter Weihgeschenke finden Parallelen im benachbarten Lydien. Die Eliten dieses westanatolischen Königreiches, die ab der Mitte des 7. Jhs. v. Chr. zu großem Reichtum gelangt waren, engagierten sich in be- rühmten griechischen Heiligtümern: in Delphi, Didyma und auch im Artemision. Die Artemis von Ephesos stand in Lydien in hohem Ansehen. Vielleicht war ein lydischer König am Bau des Naos 2 beteiligt?

Abb. 5 Glasanhänger, sog. Bockgesichtsperle, spätes 7. Jh. v. Chr.
Abb. 5 Glasanhänger, sog. Bockgesichtsperle, spätes 7. Jh. v. Chr. © ÖAW–ÖAI / N. Gail

Die Lyder und die Dipteroi

Von einem der Nachfolgebauten, dem Dipteros 1 (vgl. Abb. 1), berichtet der Historiker Herodot, dass ihn der letzte Lyderkönig Kroisos in der ersten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. mitfinanzierte. Der mit zahlreichen Reliefs geschmückte Dipteros 1 – ein Tempel gekennzeichnet durch eine doppelte Ringhalle – war der erste Marmortempel in Ephesos. Seine imposante Länge von über 112 m wurde später nicht mehr übertroffen.

Als der Dipteros 1 im Jahr 356 v. Chr. bei einem Brand stark beschädigt wurde, erbaute man ihn auf dem gleichen Grundriss neu. Dieser sechste Tempel – der Dipteros 2 – wurde aufgrund seiner beeindruckenden Größe und seines prächtigen Skulpturenschmucks von antiken Autoren zu den «Sieben Weltwundern» gezählt. Er trug wesentlich zum Ruhm der Artemis von Ephesos bei.

Das Artemision und die Stadt

Seit der Wiederentdeckung des Artemisions von Ephesos bildeten die aufeinanderfolgenden Tempel und die dazugehörigen Altäre den Schwerpunkt der archäologischen Forschung, während das umgebende, einst dicht bebaute heilige temenos unerforscht blieb. Die räumliche Wahrnehmung des Tempels, in der Forschung häufig als Solitärbau dargestellt, verändert sich zusehends durch neue Erkenntnisse zur baulichen Gestaltung des heiligen Bezirks. So konnte ein kaiserzeitliches Odeion aus der zweiten Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. identifiziert werden, das als Austragungsort für die musischen Agone der Spiele zu Ehren der Artemis gedient hat.

Auch zur räumlichen Gestaltung des Kernbereichs um den Tempel konnten neue Erkenntnisse gewonnen werden, die belegen, dass es eine massive bauliche Umgestaltung unter den flavischen Kaisern gegeben hat. Nördlich des Altars wurde ein hellenistischer dorischer Hallenbau abgetragen und zum Teil mit einem römischen Großbau des 1. Jhs. n. Chr. überbaut (Abb. 6). Das bereits erwähnte flavische Odeion, das weiter westlich des Tempels neu errichtet wurde, belegt umfassende bauliche Eingriffe in bestehende Strukturen und spiegelt Veränderungen der Machtverhältnisse im Artemision wider, die auf einen kaiserlichen Einfluss auf das Bauprogramm schließen lassen.

Abb. 6 Hellenistischer Stufenunterbau einer dorischen Halle nördlich des Altars, teilweise überbaut von einem flavischen Großbau.
Abb. 6 Hellenistischer Stufenunterbau einer dorischen Halle nördlich des Altars, teilweise überbaut von einem flavischen Großbau. © ÖAW–ÖAI / N. Gail

Das Ende des Artemiskultes

Nach den antipaganen Gesetzen unter Theodosius I. in den 390er-Jahren wurde der Artemiskult verboten, aber es bleibt unklar, wie lange das Kultgebäude tatsächlich als solches genutzt wurde. Es ist bekannt, dass seit Konstantin dem Großen der Grundbesitz der Tempel in der Regel an den Kaiser übertragen wurde. Der Zugang zur Wiederverwendung des Marmors aus den Tempelbereichen war daher das Vorrecht des Kaisers und seiner Familie. Während der Regierungszeit Justinians scheinen die Marmorbauten des ephesischen Artemision größtenteils noch vorhanden, jedoch aufgrund mangelnder Instandhaltung teilweise in einem schlechten Zustand gewesen zu sein.

Schließlich wurde der Artemistempel von Kaiser Justinian als Ressource für sein eigenes großes Bauprojekt einer Kreuzkuppelkirche am nahegelegenen Ayasolukhügel freigegeben. Der Abbau eines der größten Heiligtümer der antiken Welt ist daher ein Paradebeispiel für das Recycling von Baumaterialien und demonstriert die Bedeutung von Wiederverwendung für Großbaustellen in der byzantinischen Zeit. Der häufig interpretierte symbolische Sieg des Christentums über die heidnischen Kulte ist im Fall des ephesischen Artemision v. a. als effiziente und sparsame Ressourcennutzung zu verstehen.

Was geschah mit dem Artemision-Gebiet nach der Fertigstellung der Johannesbasilika? Geoarchäologische Bohrungen bestätigen, dass von der archaischen Zeit bis zur Spätantike keine signifikante Anhebung des Niveaus festgestellt werden kann. In der mittelbyzantinischen Zeit (10. bis frühes 13. Jh.) setzten sich ca. 4 m hohe Flusssedimente ab und belegen, dass das Gebiet zeitweise unter Wasser stand und daher nicht mehr begangen werden konnte. In der seldschukischen Beylik-Periode (erste Hälfte des 14. bis Mitte des 15. Jhs.) sammelten sich zunächst weitere ca. 3 m Flusssedimente an, doch wurde das Gebiet dann auf höherem Niveau zu einem Handwerkerviertel. Ab der osmanischen Periode und im Laufe der frühen Neuzeit wurden die periodischen Überschwemmungen im Artemision-Gebiet jedoch so stark, dass das Gebiet unbewohnbar wurde.

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