Glaube und Leid

Es ist eine uralte Menschheitsfrage nach dem Warum des Leidens, nach dessen Bedeutung und Ursprung, nach der Vereinbarkeit des Glaubens an einen guten Gott mit dem Übel in der Welt.

Glaube und Leid
Es ist eine uralte Menschheitsfrage nach dem Warum des Leidens, nach dessen Bedeutung und Ursprung, nach der Vereinbarkeit des Glaubens an einen guten Gott mit dem Übel in der Welt.© Pixabay

Es ist Aufgabe eines Christen, in der Nachfolge Jesu jene Frage ernst zu nehmen, die er selbst in tiefstem Leiden gestellt hat: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dabei muss nicht die grundsätzliche Gerechtigkeit Gottes bewiesen, sondern der Glaube an Gott vor der Vernunft und atheistischen Einwänden verantwortet werden.

Die Anklage Gottes: Das Theodizeeproblem

Die Bezeichnung Theodizee wurde aus den griechischen Worten für „Gott“ und „Gerechtigkeit“ zusammengesetzt. Der Begriff meint „Gerechtigkeit Gottes“ oder „Rechtfertigung Gottes“. Als Theodizee werden die Antwortversuche auf jene Frage nach dem Leid bezeichnet: Wie können Gottes Eigenschaften der Allmacht, Allgüte und Allwissenheit mit dem Bösen in der Welt zusammengedacht werden? Die Anklage lautet: Wie kann ein gerechter Gott solches Leid zulassen, wenn er es eigentlich verhindern könnte?

Wenn Gottes Eigenschaften oder seine Existenz nicht relativiert werden sollen, müssen Lösungsansätze zur Deutung des Übels und der Verteidigung des gütigen und allmächtigen Gottes gefunden werden.

Das Theodizeeproblem fragt danach, wie das

  • natürliche Übel (malum physicum) etwa durch Naturkatastrophen oder Krankheiten
  • das moralische Übel (malum morale) als vom Menschen verursachtes Böses
  • und die Auslieferung des Menschen an Leid und Tod (malum metaphysicum), sprich seine Sterblichkeit

mit der Existenz eines Gottes vereinbar ist, der all dies Leid nicht zulassen müsste, es in der Schöpfung hätte ausschließen können. Saskia Wendel formuliert den Widerspruch der Theodizeefrage: „Gibt es aber Übel in der Welt, dann kann es Gott entweder nicht beseitigen, dann aber ist er nicht allmächtig, oder er will es nicht beseitigen, dann aber ist er nicht gut und gerecht. Beide Möglichkeiten bedeuten, dass Gott nicht wirklich vollkommen ist, mithin nicht Gott.“ So führt die Frage nach dem Leid häufig zur Auflehnung gegen Gott oder der Bestreitung seiner Existenz. Allerdings besteht im Durchgang durch die Theodizee auch die Chance, den Glauben an Gott rational zu verantworten. Dabei gilt es, Sensibilität für die damit verbundene Gefahr des Zynismus zu bewahren. Dann kann diese Konfrontation die christliche Perspektive zu konkreten Leid- und Unrechtsverhältnissen öffnen und zur Solidarität mit den Leidenden führen – ein zentrales Motiv des christlichen Glaubens.

Antwortversuche zur Theodizeefrage

Im Laufe der Philosophie- und Theologiegeschichte wurden unzählige Antwortversuche zur Theodizeeproblematik gewagt. Saskia Wendel fasst diese für die Untersuchung der Theodizee als Wurzel des Protest-Atheismus wie folgt zusammen.

Der Verzicht auf eine Antwort im Zuge der „reductio in mysterium“ will den Widerspruch des Problems nicht auflösen. Die Anerkennung, dass es nicht lösbar bleibt, überzeugt jedoch wenig. Einem Gott zu trauen, wenn man die Erschaffung einer solch leidvollen Welt nicht nachvollziehen kann, macht den Glauben an ihn irrational.

Ein weiterer Versuch interpretiert das Leid als Strafe Gottes für menschliche Sünden. In einer Abstufung wird das Leid zur pädagogischen Maßnahme, die zur sittlichen Reifung und Selbstvervollkommnung führen soll. Demnach müsste Leid demütig und geduldig ausgehalten werden. Die Wirkungsgeschichte dieser Antwort war fatal und sollte in ihrem Zynismus grundsätzlich unterlassen werden.

Die sogenannte Privationsthese kommt schon bei Augustinus vor. Sie besagt, dass das Böse an sich nicht existiert, sondern nur ein Mangel an Gutem ist. Das Böse stammt aus dem Nichts, aus dem Gott alles hat werden lassen. Demnach ist alles, was ist, gut. Gott kann daher nicht für das Übel verantwortlich sein, da er es nicht geschaffen hat. Doch auch dieser Ansatz ist zynisch, der Mensch erfährt das Böse schließlich real und kann seine Existenz nicht einfach abtun. Außerdem müsste ein allmächtiger Gott dies überhaupt nicht hinnehmen.

Der Lösungsversuch von Gottlieb Wilhelm Leibniz geht davon aus, dass Gott in der Vollkommenheit seiner Allgüte und Allmacht die „beste aller möglichen Welten“ schaffen muss. Er hat die Welt mit der größtmöglichen Ordnung ausgestattet und in ein Maximum an Harmonie gesetzt. Gott könnte das Übel nicht reduzieren, ohne jene außer Kraft zu setzen. So würde er seiner eigenen Weltordnung, der Schöpfung und damit sich selbst widersprechen. Dementsprechend gilt es, die Welt anzunehmen in der Hoffnung, dass Gott sie zu einem guten Ende führen wird. Hier ist die Theodizeefrage ein Scheinproblem. Fraglich bleibt, warum der allmächtige Gott in der „besten aller möglichen Welten“ das Übel zulässt.

Ein weiterer Ansatz bezieht sich auf die göttlichen Prädikationen der Allmacht, Allgüte und Allwissenheit. Diese Antworten versuchen das Theodizeeproblem zu lösen, indem sie eine der Eigenschaften in Frage stellen. So wird beispielsweise in Bezug auf die Allgüte ein „dunkler Grund“ Gottes angenommen, was jedoch seine Vollkommenheit untergräbt. Die Allmacht Gottes wird in zwei Varianten beschränkt. Die erste besagt, dass Gott sich freiwillig im Schöpfungsakt depotenziert, er beschränkt sich selbst aus Liebe zum Menschen. Deshalb muss er das Leid zulassen und aus Solidarität mit seiner Schöpfung leiden. Dann würde er jedoch nicht in der Lage sein, seine Schöpfung zu vollenden und bliebe letztlich in ihr gefangen. Die zweite Variante geht davon aus, dass Gott bereits in seinem Wesen nicht allmächtig und daher nicht für das Leid verantwortlich ist. In diesem Fall würde jedoch der Theismus preisgegeben werden. Die Infragestellung der Allwissenheit weist bereits in Richtung einer tragbaren Antwortstrategie. Hier werden Allmacht und Freiheit Gottes nicht mit einem unfehlbaren Vorauswissen oder göttlicher Vorsehung verbunden, was die Theodizeeproblematik deutlich abschwächt. Gott lässt sich durch unsere Freiheit bestimmen. Er verzichtet auf unfehlbares Wissen und Planen, lässt sich auf das Risiko einer offenen Zukunft der Welt ein. Auf diese Weise kann er nicht für das Übel in der Geschichte verantwortlich gemacht werden. Diese These des sogenannten „open view theism“ ist eng mit einer weiteren Lösungsstrategie verbunden.

"Free will defense"

Als „free will defense“ wird der tragfähigste Antwortversuch bezeichnet. Er bezieht sich auf die Schöpfung und die Freiheit Gottes. Dabei wird der folgende Gedanke aus der Freiheitsschrift von Friedrich Wilhelm Schelling aufgenommen: Gott hätte die Welt nicht anders schaffen können, weil er sonst seiner eigenen Freiheit widersprochen hätte. Ein unfreier Mensch und eine unfreie Schöpfung entsprächen nicht Gottes Bild.

Bezüglich des malum morale wird in diesem Lösungsansatz die Willensfreiheit verteidigt („free will defense“). Dem malum physicum wird die Verteidigung der natürlichen Ordnung („natural law defense“) gegenüber gestellt. Im Falle des malum metaphysicum wird die Differenz zwischen Gott und der Welt verteidigt, da sie die geschöpfliche Autonomie ermöglicht.

Ein Problem bleibt auch bei diesem Lösungsansatz: Der Preis für die Freiheit der Schöpfung ist hoch. Doch Gott übernimmt Verantwortung für sein Schöpfungshandeln, indem er sich selbst zum Teil von ihr macht. Er teilt ihr Schicksal bis zum Leiden und Tod am Kreuz. Die Antwort Gottes auf das Leiden des Menschen ist der leidende Christus. Die eschatologische Hoffnung auf das Heil aller verlangt jedoch mehr als einen mitleidenden Gott. Seine große Theodizee ist die Zusage der Rettung für die Opfer der Geschichte, das Versprechen der Vollendung der ganzen Schöpfung. Dieses Heil kann der allmächtige Gott herbeiführen, der allgültige Gott will dies für seine Schöpfung und sagt es seinen Geschöpfen zu. Da Leid nicht von Gott "verhängt" ist, haben die Menschen das Recht und in Erinnerung an die von Gott gebotene Nächstenliebe auch die Pflicht, Leiden mit allen Mitteln zu bekämpfen beziehungsweise zu lindern. 

Christlicher Umgang mit dem Leid

Ich irre umher in meiner Klage. Ich bin in Unruhe ob des Lärmens der Feinde, ob des Schreiens der Gottlosen. Mein Herz ängstigt sich in meiner Brust, und die Schrecken des Todes befallen mich. Furcht und Zittern kommt mich an, und Grauen bedeckt mich.
Psalm 55, 3–6

Erfahrungen wie im Psalm 55 werden noch immer gemacht. Sie bringen jene Fragen mit sich, die weder beantwortet noch abgeschafft werden können. Die antike und jüdisch-christliche Tradition empfehlen, aus dem Leiden zu lernen. Ist es aber überhaupt möglich, dem Schmerz einen Sinn zu geben? Wie viel Raum ist in unserer Kultur für das Leid geblieben?

Das Erdulden des Ijob

Ijob sitzt, nachdem er seine Familie, sein Hab und Gut und seine Gesundheit verloren hat, elend auf einem Aschenhaufen. Er schreit seinen Schmerz heraus, beteuert seine Unschuld und klagt Gott an. Die alttestamentliche Ijob-Dichtung lehrt, dass der Mensch das dunkle Geheimnis des Leids niemals ergründen kann. Doch braucht er sich nicht schuldig zu fühlen, wenn er leidet.

Die Leidenserfahrung Ijobs wird in der Auslegung zum Weg der Kontemplation. Sein Elend stürzt ihn in tiefste Einsamkeit und Gottverlassenheit. Doch in diesem Übel wird er unbemerkt einen Weg geführt: Am Ende erschließt sich ihm die Welt von Gott her neu, er wird überreich gesegnet und ihm wird das zuteil, worauf er in der Not hoffte – er darf Gott schauen. Auf jenem Weg muss er innere und äußere Widerstände überwinden. Ijobs Vorstellungen von Gott halten in seiner leidvollen Realität nicht stand, der Weg der Auseinandersetzung mit dieser Tatsache ist schmerzhaft.

Seine drei Freunde wollen Ijob Trost spenden. Doch als ihnen seine Wehklage zu weit geht, verwandelt sich ihr Mitleid in Unverständnis und Feindschaft. An dieser Stelle greift Gott selbst ein, tadelt die Freunde und nimmt Ijob in Schutz. Doch auf seine Warum-Fragen geht Gott nicht ein und verweist ihn auf die menschlichen Grenzen. Diese Unbegreiflichkeit Gottes ist einerseits eine Warnung vor vorschnellen Antwortversuchen und gibt andererseits Raum für Hoffnung. Das menschliche Nicht-Wissen ist befreiend, Gottes letztes Wort steht noch aus. Die traditionelle Verbindung von Leid und Schuld wird somit aufgehoben. Gott ist nicht der Richter, sondern der Freund, der den Menschen in jeder Lebenslage begleitet.

Leiden als Lernprozess

Wenn es dem Leidenden gelingt, statt nach dem Warum nach dem Wozu zu fragen, besteht die Chance, auch aus schwerem Leid in einen schmerzlichen aber fruchtbaren Lernprozess zu gelangen. Menschliches Reifen kann nur in der bewussten Auseinandersetzung mit den unvermeidbaren Leiden des sterblichen Seins geschehen. Die verwandelnde Kraft solcher Erfahrungen schenkt dann ein Bewusstsein für die Kostbarkeit des Lebens und seiner Zeit. Jedoch existiert auch ein Übermaß an Leiden, wie zum Beispiel an Hunger sterbende Kinder. Daraus kann nichts mehr gelernt werden. Nicht jedes Leid hat eine Sinn.

Die Bedeutung des Trostes

Das Ausmaß des Übels scheint in keinem Verhältnis zur paulinischen Aufforderung „einer trage des andern Last“ zu stehen. Die Möglichkeiten des Trostes sind scheinbar begrenzt. Doch es bleibt die eschatologische Hoffnung, dass Gott am Ende aller Tage alle Tränen trocknet. In dieser Zusage lässt sich Mut finden, das in der Gegenwart Notwendige zu tun. Gott will durch die Hände des Menschen die Leidenden trösten und sie nicht allein auf das Jenseits vertrösten. Trösten bedeutet, der Vereinsamung der Leidenden entgegen zu wirken und sie zu begleiten.

Christliche Ergebung

Gebet und Ergebung in das Leid bedeuten weder passives Erdulden noch blinde Unterwerfung. Die aktive Teilnahme wird getragen von der Hoffnung, jederzeit durch Gottes Hände aufgefangen zu werden. Es ist die Einwilligung in den Willen Gottes, der für seine Schöpfung einzig das Gute anstrebt. Diese radikale Annahme des Leidens vermag den Leidenden zu verwandeln. In Weinen, Klagen und Bitten muss um diese stärkende Erfahrung gerungen werden. Jene Frucht des Gebets ist das Ende eines langen Weges.

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