Vielstimmige Zeit

Die Societas Iesu – der Jesuitenorden – hat seit ihrer Gründung im Jahr 1540 den Auftrag, den christlichen Glauben durch Wort und Schrift zu verkünden. In besonderer Weise hat sie sich an den Papst gebunden, der sie als der „universale Hirte“ der Kirche mit apostolischen Aufträgen in alle Welt sendet. Von Anfang an hat der Orden das damals neue Medium des Buch- und Zeitschriftendrucks reichlich genutzt, um seine Sendung zu erfüllen. Die „Stimmen der Zeit“ stehen seit über 150 Jahren in diesem Auftrag und werden auch künftig versuchen, christliche Stimmen in einer vielstimmigen Zeit zu Gehör zu bringen.

Die Vielstimmigkeit der Gegenwart wird befeuert durch neue, digitale Medien. Da jedoch niemand alles hören und aufnehmen kann, muss reduziert werden. Deshalb wird Intellektualität immer mehr zum Spezialistentum. Weil die Welt immer komplexer wird, resignieren viele und flüchten in einfache Lehren, in glatte Lösungen, in knappe Parolen – die jedoch zur Wirklichkeit nicht passen und sie folglich nicht gestalten können. Viele reduzieren ihr Denken und Handeln – vermeintlich geht es in einer Kultur und in kleinen, abgegrenzten sozialen Einheiten leichter. Populistische Parolen – von rechts oder von links – haben Konjunktur und finden Anhänger. Die Digitalisierung verändert radikal alles Kommunizieren und Denken und Tun, manches zum Besseren, manches zum Schlechteren.
Der frühere Generalobere der Jesuiten, P. Adolfo Nicolàs, ermutigte die Jesuiten immer wieder zu „Tiefe“ – depth – gegen alle Oberflächlichkeit der Zeit. Tiefe meint auch Differenziertheit in der Wahrnehmung, ausgehaltene Vielfalt, argumentative Sorgfalt, Geduld im Hören und in der Suche nach dem Besseren, wissenschaftliche Gründlichkeit. Das alles ist anstrengend und findet oft nicht den schnellen Zuspruch. Doch die „Stimmen der Zeit“ bleiben ihrem Auftrag zur intellektuellen Redlichkeit treu. Und sie entdecken das Humane und Christliche auch im Verborgenen, auch jenseits des explizit Kirchlichen, in der weiten, vielfältigen und reichen Menschheitskultur. Sie widmen sich der Unterscheidung der Geister, dem Kernstück jesuitischer Spiritualität.

Inhaltliche Schwerpunkte sind der Zeitschrift durch die Nöte der Zeit und durch den Auftrag des Ordens gegeben: Klassisch ist der Einsatz der Jesuiten für Bildung; sie steht gegenwärtig unter dem Druck wirtschaftlicher und politischer Instrumentalisierung, ist jedoch der Schlüssel sowohl für die Überwindung der Armut als auch für die Humanisierung der Gesellschaft. Ein wichtiges Feld ist und bleibt die ethische Reflexion, denn in neuzeitlich-komplexen und individuell-liberalen Lebensverhältnissen spielen Autoritäten für das Verhalten nurmehr eine geringe Rolle – oder in der Gegenreaktion eine zu große; Einzelne und Gruppen müssen sich – nach dem Maßstab der Gerechtigkeit – begründet und verantwortlich für Gutes entscheiden. Der Begriff der Spiritualität umschreibt ein drittes Feld: Gegen jeden platten Materialismus oder intellektuellen Naturalismus ist der Mensch als Geistwesen zu beschreiben und zu fördern; seinen Geist kultiviert und bildet er als Geschöpf Gottes, und zugleich lässt er ihn von Gottes Geist verwandeln, erfüllen und bestimmen; in der Vielstimmigkeit heutiger Geister bedarf es ganz besonders der aufmerksamen Unterscheidung.

In Generalkongregationen (GK) – weltweiten Versammlungen – aktualisiert der Jesuitenorden immer wieder seine Sendung. Die letzten GKs gaben zentrale Stichworte vor. So spricht die 34. GK (1995) von Glaube, Gerechtigkeit, Inkulturation und Dialog. Sie formuliert die enge Verbindung dieser vier Dimensionen der Sendung: „Kein Dienst am Glauben ohne Förderung der Gerechtigkeit, Eintritt in Kulturen, Offenheit für andere religiöse Erfahrungen. Keine Förderung der Gerechtigkeit ohne Glauben mitzuteilen, Kulturen umzuwandeln, mit anderen Traditionen zusammenzuarbeiten. Keine Inkulturation, ohne sich über den Glauben auszutauschen, mit anderen Traditionen in Dialog zu treten, sich einzusetzen für Gerechtigkeit. Kein Dialog, ohne den Glauben mit anderen zu teilen, Kulturen zu untersuchen, Sorge zu tragen für Gerechtigkeit.“ (D. 2,47)

Was die 35. GK (2008) als Dienst an der Versöhnung andeutete, wird in der 36. GK (2016) weiter entfaltet: Wir spüren „den Ruf, an Gottes Werk der Versöhnung in unserer gebrochenen Welt teilzuhaben“ (D. 1,21), und das in drei Dimensionen: der Versöhnung mit Gott, die ein Werk des Glaubens ist, der Versöhnung der Menschen untereinander – Gerechtigkeit ist hierfür der zentrale Wert – und der Versöhnung mit der Schöpfung: Diese dritte, ökologische Dimension ist in dieser Deutlichkeit neu, sie greift die Anregung von Papst Franziskus auf, der in seiner Enzyklika Laudato si‘ „die grundlegende Verbindung zwischen der Umweltkrise und der sozialen Krise betont“ (D 1,29). Ebenfalls neu ist die Anregung der 36. GK, dass die Weise, wie Christen miteinander und mit anderen Leben teilen – für den Jesuitenorden ist das konkret die Qualität des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit mit Nichtjesuiten –, als Modell christlicher Existenz für die Wirksamkeit nach außen entscheidend sein wird.

Die „Stimmen der Zeit“ legen ihren Akzent auf die weltweite Verflechtung, auf den internationalen und interkulturellen Dialog, auf das friedvolle Miteinander von Milieus, Völkern und Religionen, und das mit großem Respekt und mit Gleichbehandlung aller Menschen. Damit stehen sie nicht nur ausdrücklich in der Sendung des universalen Hirten der Kirche, der derzeit ja ein Jesuit ist, sondern sie haben auch – ganz einfach – einen reichen, herausfordernden und wichtigen Auftrag für unsere Zeit.

Zum neuen Redaktionsteam der „Stimmen der Zeit“ gehören Klaus Mertes SJ (St. Blasien), Philipp Adolphs (Berlin) und Stefan Kiechle SJ (Frankfurt, Chefredakteur). Die Deutsche Provinz der Jesuiten als Herausgeberin der Zeitschrift dankt der bisherigen Redaktion mit ihrem Chefredakteur, Andreas R. Batlogg SJ, für langjährige Dienste an der Zeitschrift, dem Verlag Herder für sein künftig verstärktes Engagement und der Leserschaft und den Autoren für ihr Interesse und für alle Unterstützung. Sie wünscht der Zeitschrift weite Verbreitung und gute Wirkung.

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