Heinrich Heine und die Religion(en)

Joseph A. Kruse, Direktor i. R. des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf und Honorarprofessor der dortigen Universität, geht der Gretchenfrage nach: Wie hielt es der Jude Heinrich Heine - Christ durch Konversionszwang - mit der Religion?

Stets taucht bei der Beschäftigung mit Heinrich Heine (1797-1856), dem deutschjüdischen Dichter aus Düsseldorf mit einem Vierteljahrhundert Pariser Existenz, die Gretchenfrage auf: wie er es mit der Religion halte1. Die Frage führt über das damals herrschende Christentum weit hinaus. Die Zeitgenossen waren von der unbekümmerten Fähigkeit zur Religionskritik irritiert, die den parallel zum Abschluss des Jurastudiums protestantisch getauften Harry bzw. dann Heinrich Heine auszeichnete. Sie warfen ihm blasphemische Verhöhnung aller Religion sowie „Gotteslästerungen“ vor. Die Zensur meinte nicht nur seine freiheitstrunken-politischen Stellungnahmen, sondern genauso seine religiöse Unabhängigkeit oder Distanz zu „Thron und Altar“. Dass er obendrein die „Emanzipation des Fleisches“ gegen die kirchliche Leibfeindlichkeit proklamierte, machte ihn erst recht verdächtig2.

Eine unkonventionelle religiöse Haltung

Gleichzeitig machte seine sogenannte Bekehrung, die Rückkehr zur Bibel und zum Gott der Väter während der Spätzeit mit ihrem acht Jahre dauernden Krankenlager, der „Matratzengruft“3, alle ihm ergebenen Skeptiker konfus und bereitete den Frommen Kopfzerbrechen. Sie besaß literarischen Charakter: Die Hinwendung zur angeborenen Religion geschah aus Solidarität und durch die Erfahrung der weltliterarischen Qualität der Bibel.
Er widersetzte sich keineswegs einer katholischen Trauung mit seiner Lebensgefährtin Augustine Mirat (1815-1883), die er Mathilde nannte: Durch das Namensduo Heinrich und Mathilde gelang ihm im Venusberg Paris die deutscheste aller Varianten zum Thema Liebespaare. Und dies in einer Beziehung, die durch ein langes Siechtum belastet wurde, was die Fürsorge bis hin zu ergreifenden lyrischen Gebeten zugunsten Mathildes nicht ausschloss.
Auch der Nachwelt fielen seine jüdische Herkunft, die Bibelkenntnis4, die Taufe und seine Kritik am Christentum, zumal am Katholizismus, seine Wertschätzung der Antike durch sein Gegensatzpaar von Nazarener- und Hellenentum immer wieder schwer ins Kontor von Ablehnung wie Zustimmung. Dabei spielten die jeweiligen Bekenntnisse der sich mit der religiösen Frage beschäftigenden Vertreter der Heine-Forschung eine Rolle. Die Vieldeutigkeit der Texte wurde durch ein Echo von Antworten begleitet, die den Autor und seine Botschaft5 auf gegensätzlichste Weise deuteten: vom atheistischen Gottesleugner wie Religionskritiker bis zum positiv gläubigen Muster menschlicher Gottesbeziehung. Nicht umsonst hatte Heine die „Gottesfrage“ als „wichtigste Frage der Menschheit“ und sich selbst als „Sohn der Revolution“ bezeichnet, was sich auch in der von ihm an Marx weitergebenen Formulierung von der Religion als „Opium des Volkes“ niederschlägt.
Das Thema schien geradezu erschöpft, gewinnt aber auf der gegenwärtigen Weltbühne Aktualität. Die quasi vogelperspektivisch religionshistorischen Beobachtungen Heines als „Künstler, Tribun und Apostel“, wie er sich nach jungdeutscher Doktrin verstand, können keinen Frieden stiften, wohl aber zur Relativierung beitragen. Seine Religionskritik setzte stets beim Zwang und bei der Verfolgung eigenständigen Denkens unter der Vorherrschaft angeblich frommer Systeme an. Er verteidigte die Freiheit, Unabhängigkeit und Menschenwürde samt den zugehörigen sozialen Voraussetzungen.

Jüdische Wurzeln und Väterglaube

Das frühe autobiografische Reisebild „Ideen. Das Buch Le Grand“ berichtet von der rheinischen Herkunft aus Düsseldorf, wohin, wenn man „zufällig dort geboren“ sei, sonderbare Gefühle einen zurückzögen. Ebenso zufällig wie der Ort sind die Bedingungen, unter denen der Mensch das Licht der Welt erblickt, über die sich der Autor, jedenfalls an dieser Stelle, weniger freizügig auslässt. Das geschieht im „Memoiren“-Fragment aus dem Nachlass, worin der Schläge durch den geistlichen Lehrer gedacht wird, die auf seine Erzählung über den jüdischen Großvater zurückzuführen waren, wodurch ein Klassentumult ausgelöst wurde.
Die mütterlichen Vorfahren van Geldern in Düsseldorf zählten zu den bedeutenden Hoffaktoren. Später lebten sie teilweise als Judendoktoren. Die väterliche Familie aus Bückeburg, dann Hannover, diente ebenfalls in Hofgeschäften. Der bekannteste Verwandte war der Millionärsonkel Salomon Heine, Bankier und Mäzen in Hamburg, wo auch der Dichter vor seinem Jurastudium in dessen wie seines Vaters Fußstapfen treten sollte und als junger Kaufmann um Aufnahme in die jüdische Gemeinde bat.
Die Familiengeschichte spricht von frühen Ausgrenzungen und späterer Emanzipation wie Assimilation. So waren die Heine-Jungen die einzigen israelitischen Schüler auf dem die Jesuitenschule beerbenden Lyzeum im ehemaligen Franziskanerkloster neben der Maxkirche, was vom Integrationswillen des Elternhauses zeugt. Die Mutter Betty war Arzttochter, ebenso gebildet wie aufgeklärt. Der Vater Samson scheint als Kaufmann und Freimaurer auf einen sozialen, von jüdischer Ethik geprägten Zusammenhalt im mehrheitlich katholischen Gemeinwesen geachtet zu haben. Eine jüdische Erziehung der Kinder blieb dabei oberflächlich. Die christliche Taufe war besonders für die männlichen Nachkommen, da den Frauen nur wenige Tätigkeiten verblieben, die Bedingung für den Einstieg in reguläre Staatsämter. Der Zwang blieb eine erniedrigende Belastung. Selbst nach dem Übertritt war die Ausgrenzung meist spürbar, was bedeutete: einmal Jude, immer Jude.
Heine zählte nach der Taufe zur „Qual persönlicher Verhältnisse“, die ihn aus Deutschland davontreibe, eben jenes Stigma, das er „der nie abzuwaschende Jude“ nannte. Sein christliches Leben ging ohne praktische Religionsausübung oder Kirchenbesuche vonstatten. Synagogentreu war er vor der Taufe im Jahr 1825 ebenfalls nicht gewesen. Sein Glaube bestand in einer Würdigung der Menschwerdung Gottes durch die Gesamtheit der Menschen, wie es in seiner Schrift „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ heißt: Gott sei der eigentliche Held der Weltgeschichte, diese sei dessen beständiges Denken, sein beständiges Handeln, sein Wort, seine Tat; „und von der ganzen Menschheit kann man mit Recht sagen, sie ist eine Inkarnation Gottes!“
Am Ende seines Lebens fühlte er sich, als sei er nie aus dem Judentum ausgetreten, auch wenn die zeitweise Entfernung enorm gewesen sein muss. Sein Bekenntnis in den „Geständnissen“ von 1854 lautet:

„Die Juden“ seien immer „gewaltige, unbeugsame Männer“ gewesen, „trotz achtzehn Jahrhunderten der Verfolgung und des Elends“. Er habe sie „seitdem besser würdigen gelernt, und wenn nicht jeder Geburtsstolz bei dem Kämpen der Revolution und ihrer demokratischen Prinzipien“, so betont er die inzwischen erreichte literarische Position, „ein närrischer Widerspruch wäre“, könne er „stolz darauf sein, daß seine Ahnen dem edlen Hause Israel angehörten, daß er ein Abkömmling jener Märtyrer, die der Welt einen Gott und eine Moral gegeben, und auf allen Schlachtfeldern des Gedankens gekämpft und gelitten haben.“

Das ist der Entwurf zu einer Familiengeschichte, wie er solidarischer nicht sein könnte6. Dabei stellt er eine religionshistorische Begabung unter Beweis, indem er feststellt, dass es ihn manchmal bedünke, „als sei dieser mosaische Gott nur der zurückgestrahlte Lichtglanz des Moses selbst, dem er so ähnlich sieht, ähnlich in Zorn und in Liebe“. Der Ironiker nimmt sich bei dieser Entdeckung zurück und beschließt die Parallele folgendermaßen:

„Es wäre eine große Sünde, es wäre Anthropomorphismus, wenn man eine solche Identität des Gottes und seines Propheten annähme – aber die Ähnlichkeit ist frappant.“

Sein witziger Held namens Hirsch-Hyazinth in den „Bädern von Lucca“ hatte die Not, ja die „Plage“ mit der Abstammung und dem alten Glauben bereits in die Worte gefasst:

„Herr Doktor, bleiben Sie mir weg mit der altjüdischen Religion, die wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind. […] Ich sage Ihnen, es ist gar keine Religion, sondern ein Unglück.“

Trotzdem schildert derselbe frustrierte Jude aus Hamburg gerade das wunderbare Sabbatglück dort im Hause „Lump“, wie es von Heine selbst noch einmal viel später im ersten Text der „Hebräischen Melodien“ aus dem „Romanzero“ von 1851 mit dem Titel „Prinzessin Sabbat“ voller Mitgefühl als Zauber religiöser Verwandlungskraft gedeutet wird.
Einige Zeilen aus dem Buch über seinen Freund und späteren Gegner Ludwig Börne aus Frankfurt am Main, der sich ebenfalls protestantisch taufen ließ, dann jedoch der katholischen Kirche zuneigte, genauso in Paris lebte und starb, mögen die Heine’sche Sicht auf die religionsgeschichtlichen Spannungen zwischen dem Werden der jüdischen Religion, aus der sich die christliche ergab, belegen: Es sei ein merkwürdiges Schauspiel, schreibt Heine, wie das Volk des Geistes sich allmählich ganz von der Materie befreit habe und spiritualisierte:

„Moses gab dem Geiste gleichsam materielle Bollwerke, gegen den realen Andrang der Nachbarvölker: Rings um das Feld, wo er Geist gesäet, pflanzte er das schroffe Zeremonialgesetz und eine egoistische Nationalität als schützende Dornhecke.“

Als aber die heilige Geistpflanze so tiefe Wurzeln geschlagen und so himmelhoch emporgeschossen, dass sie nicht mehr „ausgereutet“ werden konnte, da sei Jesus Christus gekommen und habe das Zeremonialgesetz niedergerissen, „das fürder keine nützliche Bedeutung mehr hatte, und er sprach sogar das Vernichtungsurteil über die jüdische Nationalität“. Er habe alle Völker der Erde zur Teilnahme an dem Reiche Gottes, das früher nur einem einzigen auserlesenen Gottesvolke gehörte, berufen; „er gab der ganzen Menschheit das jüdische Bürgerrecht“. Das sei eine große Emanzipationsfrage gewesen. Freilich sei der Erlöser, der den Kosmopolitismus gestiftet habe, „ein Opfer seiner Humanität“ geworden „und der Stadtmagistrat von Jerusalem ließ ihn kreuzigen und der Pöbel verspottete ihn“.
Soweit diese ineinander verwobene jüdisch-christliche Geschichte. Seine Bekehrung erlebte Heine durch die Bibel. Darum muss hier beim jüdischen Aspekt seiner Religionsauffassung vom Buch der Bücher die Rede sein. Der Spötter zeigt sich als bescheidener Bewunderer, der besonders am Ende ohne die Rolle des Hiob, des armen Lazarus aus der Beispielerzählung Jesu und des auferweckten Lazarus aus Bethanien, des Freundes Jesu, gar nicht mehr auskommt.
Das Alte Testament, heißt es bereits im „Börne“-Buch, sei „ein großes Buch“. Merkwürdiger als der Inhalt sei die Darstellung, „wo das Wort gleichsam ein Naturprodukt ist, wie ein Baum, wie eine Blume, wie das Meer, wie die Sterne, wie der Mensch selbst.“ „Das sproßt“, heißt es da, „das fließt, das funkelt, das lächelt, man weiß nicht wie, man weiß nicht warum, man findet alles ganz natürlich“. Das sei wirklich das Wort Gottes, während andere Bücher nur von „Menschenwitz“ zeugten. Und mit der späteren „Wiedererweckung“ seines religiösen Gefühls, so erzählen die „Geständnisse“, nachdem er sich sein ganzes Leben auf allen Tanzböden der Philosophie herumgetrieben habe, „mit allen möglichen Systemen gebuhlt, ohne befriedigt worden zu sein“, befinde er sich jetzt plötzlich „auf demselben Standpunkt, worauf auch der Onkel Tom, auf der Bibel, und ich knie neben dem schwarzen Betbruder nieder in derselben Andacht“.
Weder „eine Vision, noch eine seraphitische Verzückung, noch eine Stimme vom Himmel“ habe ihn auf den Weg des Heils gebracht; seine „Erleuchtung“ verdanke er, „einfach der Lektüre eines Buches“, nämlich der Bibel, die er dann als schlicht, bescheiden und natürlich, ja „werkeltägig“ und anspruchslos beschreibt. Sie sei wie die uns wärmende Sonne und das Brot, das uns nährt. Mit Fug nenne man die Bibel auch die Heilige Schrift: „wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buche wiederfinden, wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes“. Die Bibel bleibt für ihn, den Kranksten von uns allen, wie er sich bewusst versteht, einfach die „große Hausapotheke der Menschheit“.

Christ durch Konversionszwang und Jesus als „Wahlgott“

Was ergreifende Lektüre vermag, wird durch Glaubenszwang konterkariert. Die Umwelt war christlich, im Deutschland der Restauration und des Biedermeiers spürbarer als im nachrevolutionären Frankreich. Und die Konversion als „Entréebillet in die europäische Kultur“, so Heines frühe Umschreibung für die Bedingung zur Teilnahme am Leben der Umgebung, wurde als Nötigung erlitten, weil öffentliche Ämter die Taufe und damit die Zugehörigkeit zu einer der christlichen Kirchen voraussetzten. Dennoch kann der Dichter sich gern an den Unterricht durch den katholischen Priester und Rektor des Lyzeums in Düsseldorf erinnern, der als Freund der Familie für den aufgeweckten Knaben die geistliche Laufbahn in Aussicht stellte, sodass der altgewordene Schüler auf dem Krankenbett die römische Karriere bis hin zum von ihm erteilten päpstlichen Segen auf dem Petersplatz durchspielt, aber resigniert feststellt, dass nichts aus ihm geworden sei: „nichts als ein Dichter“.
Heine identifizierte sich als Patient in Paris nicht nur mit Hiob oder Lazarus, zuvor schon hatte er enge Beziehungen zu Jesus aufgebaut7. Im Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ von 1844 erzählen einige Strophen vom Anblick eines im Frührotschein erscheinenden Kreuzes und geben des Autors anteilnehmende Scheltrede an den „armen Vetter“ wieder, da ihn jedes Mal bei dessen Anblick eine verwandtschaftlich getönte „Wehmut“ erfülle: „Der du die Welt erlösen gewollt, / Du Narr, du Menschheitsretter!“ Das Morgengebet endet mit der Charakterisierung: „Unglücklicher Schwärmer, jetzt hängst du am Kreuz / Als warnendes Exempel!“
Die christliche Religion als „Wohltat für die leidende Menschheit“ wurde von ihm bereits in seiner Religions- und Philosophieschrift als „providentiell, göttlich, heilig“ gepriesen. Er gedenkt „jener großen Tröstung“ für die Menschen:
„Ewiger Ruhm gebührt dem Symbol jenes leidenden Gottes, des Heilands mit der Dornenkrone, des gekreuzigten Christus, dessen Blut gleichsam der lindernde Balsam war, der in die Wunden der Menschheit herabrann.“

Wo bleibt hier der im landläufigen Vorurteil als abkanzelnder und abrechnender Zyniker vermutete Spötter? Haben wir es nicht eher mit einer erstaunlich kreativen Distanz zu tun, die das Gute bewahrt und das Schlechte erkennt und bezeichnet? Schon im Reisebild „Die Stadt Lucca“ gehört seine Sympathie Christus. Auf die Frage, ob er glaube, dass dieser ein Gott sei, antwortet er unumwunden:

„Er ist der Gott, den ich am meisten liebe – […] weil er, obgleich ein geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demokratisch gesinnt, keinen höfischen Zeremonialprunk liebt […], und weil er ein bescheidener Gott des Volkes ist […]. Wahrlich, wenn Christus noch kein Gott wäre, so würde ich ihn dazu wählen, und viel lieber als einem aufgezwungenen absoluten Gotte, würde ich ihm gehorchen, ihm, dem Wahlgotte, dem Gotte meiner Wahl.“

Solchen Gedanken entspricht denn doch die wenige Zeit vorher angenommene protestantische Taufe, da er „Geistesfreiheit und Protestantismus“ in der „Romantischen Schule“ als verwandt betrachtet, ja als „Mutter und Tochter“ versteht. Und im selben Buche lässt er auch dem sozusagen vorausgehenden, noch älteren „Nutzen, den die christkatholische Weltansicht in Europa gestiftet“, Gerechtigkeit widerfahren: als notwendige „heilsame Reaktion gegen den grauenhaft kolossalen Materialismus“ des Römischen Reiches, der die „geistige Herrlichkeit des Menschen zu vernichten drohte“.
Als Gesamtwürdigung im Prozess einer „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ kann jene Stelle nachdenklich stimmen, die Anspruch und Wirklichkeit beschreibt: „Ja, es ist eine große, heilige, mit unendlicher Süßigkeit erfüllte Religion, die dem Geiste auf dieser Erde die unbedingteste Herrschaft erobern wollte“. Aber sie sei „allzuerhaben, allzurein, allzugut für diese Erde“. Dort werde „ihre Idee nur in der Theorie proklamiert“, konnte „aber niemals in der Praxis ausgeführt werden“. Der Versuch, „die Idee des Christentums zur Ausführung zu bringen“, sei jedoch „aufs kläglichste verunglückt, und dieser unglückliche Versuch hat der Menschheit Opfer gekostet, die unberechenbar sind und trübselige Folge derselben ist unser jetziges soziales Unwohlsein in Europa.“ Das ist Mahnung und könnte Ansporn sein!
Längst haben wir die von Heine beklagte unheilvolle Verquickung von Staat und Religion in unseren Breiten hinter uns gelassen. Er hat die „Staatsreligion“ als „Spottgeschöpf“ betrachtet, „das aus der Buhlschaft der weltlichen und der geistlichen Macht entstanden“ sei. Diese Problematik, so muss man leider ergänzen, scheint auf anderen Feldern keineswegs überwunden, sondern ist in neuen religiös-fanatischen Kontexten wieder zum despotischen Machtmittel mutiert. Im selben Zusammenhang, im Reisebild „Die Stadt Lucca“, heißt es über Misstrauen und Gesinnungsspionage, Sektenhass und Bekehrungssucht:

„während wir über den Himmel streiten, gehen wir auf Erden zu Grunde. Ein Indifferentismus in religiösen Dingen wäre vielleicht allein im Stande, uns zu retten“.

Beachten wir aber auch den Heine’schen Respekt vor dem Reformator Martin Luther, einen „kompletten“, ja „absoluten“ Menschen, auf dessen Schultern sein geliebter Lessing steht und als dessen zweiten Nachfolger er sich selber sieht! Der deutsche Sprachschöpfer ist zugleich Protestant gegen die Tendenz, das einige Ganze von Sinnen und Intellekt zu zergliedern.
Was Heine auszeichnet, ist stets der Einsatz für den Einzelnen und ein Ur-Verständnis für die humanitäre Einzelleistung. Im Reisebild „Die Stadt Lucca“ trifft der Autor auf einen Mönch, über dessen Selbstlosigkeit er reflektiert:

„sein alter Leib steckt arm und nackt in einer groben Kutte, jahraus jahrein; die zerrissenen Sandalen können seine bloßen Füße nicht genug schützen, wenn er, durch Dorn und Gestrüppe, die Felsen hinauf klimmt, um droben, in den Bergdörfern, Kranke zu trösten oder Kinder beten zu lehren“.

Gegen den Mann wolle er zu Hause nicht schreiben, wenn es „gegen die katholischen Pfaffen“ gehe. Der sozial dienende Gläubige hat die positiven Aussagen der Religion verinnerlicht und sie mit seinen humanen Begabungen zu einem harmonischen Ganzen unter noch so ärmlicher Hülle vereinigt.
Das Bodenpersonal Gottes ist es überhaupt, das Heine zum Nachdenken anregte und dessen ironische Beschreibung in der „Stadt Lucca“ sämtliche Religionen betrifft:

„Ist es doch eine bekannte Bemerkung, daß die Pfaffen in der ganzen Welt, Rabbinen, Muftis, Dominikaner, Konsistorialräte, Popen, Bonzen, kurz das ganze diplomatische Corps Gottes, im Gesichte eine gewisse Familienähnlichkeit haben, wie man sie immer findet bei Leuten, die ein und dasselbe Gewerbe treiben.“

Auch nach fast zweihundert Jahren verlieren solche Formulierungen, die gesättigt sind von Anschauung wie gesunder Respektlosigkeit, nichts von ihrer Frische und souveränen Menschenkenntnis, ohne damit die Religion selber zu desavouieren. Heine weiß eben, dass dort, wo Menschen sind, selbst bei noch so göttlichen Belangen, das verborgene Geheimnis und Numinose seine eigentümliche, nämlich anthropologische Färbung besitzt.
Das gilt gar noch für den bereits leidenden Heine im Dezember 1848, als er seinem Arztbruder Maximilian den Weg zurück zum jüdischen Gotte gestand. Er solle sich nicht wundern, „wenn eines frühen Morgens“ seine „Muse sogar als eine Betschwester“ ihm entgegentrete. In seinen „schlaflosen Marternächten“ verfasse er sehr schöne Gebete, die alle „an den Gott unserer Väter“ gerichtet seien und nehme sogar Gebete von seiner Wärterin gegen den Krampf in den Knien gerne in Kauf:

„Was wird man aber im Himmel von mir sagen; ich sehe schon, wie mancher Engel von Gesinnung sich verächtlich über mich äußert: da sehen wir ganz diesen charakterlosen Menschen, der, wenn es ihm schlecht geht, durch alte Weiber eine Fürbitte machen läßt bei derselben Gottheit, die er in gesunden Tagen am ärgsten verhöhnte.“

Heine und der Islam

Heine bewegte sich literarisch zwischen zahlreichen ihm bekannten Weltreligionen. Insofern liegt es nahe, dass er angesichts des geläufigen Orientalismus dem Islam, wie Judentum und Christentum auf Abraham bezogen und damit monotheistisch, sein Interesse schenkte8. In der maurisch-spanischen Periode fand der erst anschließend getaufte Jude Heine als junger Mann das Modell für eine Existenz, die metaphysischen Ansprüchen der Familientradition genügen möchte. Trotzdem erklärt er die Liebe zum Maßstab für das religiöse System, in das sich der Einzelne nach einer Konversion, um das gleiche Glaubensbekenntnis zu besitzen wie die geliebte Frau, wieder der Übermacht beugen würde.
So jedenfalls treffen wir in seiner während der Bonner Studienzeit entstandenen Tragödie „Almansor“ den Titelhelden an. Ein maurischer Ritter, der die ihm früh anverlobte Glaubensgenossin nach seiner heimlichen Rückkehr aus Nordafrika als Christin in Spanien wiederfindet und mit ihr wegen fehlgedeuteter Anzeichen den Tod sucht, mag wohl den jungen Dichter abbilden, der weiß, dass er zwischen den religiösen Fronten steht. Vom Stück ist auf unseren Bühnen nicht viel übrig geblieben, wohl aber ein Satz in das öffentliche Bewusstsein gelangt. Dieser bezieht sich auf den Koran, der in Granada einer Bücherverbrennung durch die Inquisition zum Opfer fiel: „Das ist ein Vorspiel nur. Dort wo man Bücher / Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“
Wie in der Bewunderung der Bibel und durch die Anwendung ihrer Sprache und Bilder auf die eigene Ausdrucksmöglichkeit oder in der katholisch-poetischen Symbolik sah er auch im „fabelhaften, abenteuerlichen Orient“ jene Poesie am Werk, die den Dichtern vorschwebte und die sie aus Kreuzzugstraditionen und 1001 Nacht zusammengeträumt hatten. Dass der nach Heines Meinung große Heide Nr. 1, nämlich Goethe, im „West-östlichen Divan“ die Kultur des islamischen Orients auf einen lyrischen Höhepunkt des poetischen Liebes-Dialogs gebracht hatte, ist eine der Voraussetzungen für die Inkorporation des Fremden innerhalb eines anderen Bildungshorizonts. Heine findet, dass Goethe hier „den berauschendsten Lebensgenuß“ in Verse gebracht habe und „diese sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch, daß man sich wundert, wie dergleichen in der deutschen Sprache möglich war“.
Ähnlich wie bei der Einschätzung oder persönlichen Verwendung der jüdischen oder christlichen Religion bewegt Heine vor allem, wie schon seine Deutung des Goethe’schen Sinns für die östliche Kultur beweist, die islamische Lebenswelt, wobei das orientalische Sujet nicht zuletzt den Symbolismus begründet und die im Islam entwickelte Bildsprache ganz zu seinem eigenen Kunstverständnis passt, dass er in der Kunst nämlich „Supernaturalist“ sei. Das bedeutet, dass ein sklavisches Verweisen auf die Natur nicht die letzte Lösung von Problemen der Kunst darstellt. Insofern geben sich Orient und Okzident die Hände, weil der Künstler in „einer mystischen Unfreiheit“ geheimnisvolle Blumen miteinander zu einem Strauße verknüpft, der als Traum und Dichtung zu begreifen ist.
Auch kulturelle Verständnisunterschiede in christlichen oder islamischen Kontexten hat Heine ironisch benannt: Was einerseits den Muslimen in der christlichen Kunst sündhaft erscheint, ist für sie andererseits, im Gegensatz zur christlichen Auffassung, in Harems-Darstellungen völlig natürlich bzw. „unschuldig“. Es bedarf also durchaus jener von Lessing in der Ringparabel des „Nathan“ verkündeten Toleranz als Voraussetzung für ein funktionierendes Zusammenleben.

Fremde Kulturen, andere Götter: Untergänge und Verwandlungen

„Zur Geschichte der Religion und Philosophie“ – so ist jene Schrift Heines aus den 1830er-Jahren überschrieben, die neben der „Romantischen Schule“ den geistesgeschichtlichen und literarischen Rahmen der deutschen Historie festlegen wollte. Beides sind bewusst verständliche, eben nicht gelehrte, sondern publikumsnahe Werke. Gleichwohl sind sie auf poetische Weise informativ und für individuelle Interessen geschrieben, dazu als Vermittlung zwischen der deutschen und französischen Kultur gedacht und insofern in mehr als einem Sinne grenzüberschreitend. Man erlebt dieses Engagement auch noch bei heutiger Lektüre, beispielsweise wenn auf religionshistorisch-literarische Art die Gottesgeschichte erzählt wird. Heine vergleicht zuvor beide europäischen Nachbarn und schreibt über die religiöse Situation in beiden Ländern mit je unterschiedlicher Laufbahn:

„Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradition wird alle Ehrfurcht aufgekündigt; wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifizieren, und wie hier das Königtum, der Schlußstein der alten sozialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes.“

Heine zeigt sich erschüttert, spricht von eigentümlichem Grauen und von einer geheimnisvollen Pietät, die ihm im Augenblick nicht weiter zu schreiben erlaube.
„Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid“, heißt es: „es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet“.
Dann folgt die Darstellung der Entwicklung dieses, wie es zum Abschluss lautet, „sterbenden Gottes“, dem man die Sakramente bringe:

„Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde – Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit und den Obelisken und Sphinxen seines heimatlichen Niltals Ade sagte und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gott-König wurde, und in einem eigenen Tempelpalast wohnte – Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assyrisch-babylonischen Zivilisation in Berührung kam, und seine allzumenschliche Leidenschaften ablegte, nicht mehr lauter Zorn und Rache spie, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnerte – Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte, und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte, und mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter Opposition bildete, und so lange intrigierte bis er zur Herrschaft gelangte und vom Kapitole herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regierte – Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop – es konnte ihm alles nichts helfen“.

Dieser jüdisch-christlichen Gotteswandlung, die Heine bewegt, stellt er Fragen an die Seite, was mit jenen Gottheiten geschehen ist, denen die griechisch-römische Welt oder auch die germanische generationenlang gehorchte. Dabei haben ihn besonders die unzähligen Götter Homers und deren veränderte Präsenz im römischen Reiche interessiert9. Nicht umsonst verabschiedet er sich im Nachwort zum „Romanzero“ vorm endgültigen Zusammenbruch „in Liebe und Freundschaft“ von seinen alten Heidengöttern, „den holden Idolen, die ich angebetet in den Zeiten meines Glücks“. Er schleppt sich mit Mühe in den „erhabenen Saal“ des Louvre, wo, wie es in ironischer Kontamination heißt, „die hochgebenedeite Göttin der Schönheit, Unsere liebe Frau von Milo, auf ihrem Postamente steht“. Die armlose Statue vermochte dem Weinenden nicht zu helfen. Auch so ließ sich die nur bedingt heitere, verschollene religiöse Welt des klassischen Altertums beschreiben. Immer aber ist es die literarische Begabung, das poetische Interesse oder eine ebensolche Anlage, die nach Heines Meinung zum Erlebnis oder zur Ausbildung bzw. zur Ausübung der Religion gehört.

In einem der Prosagedichte aus der „Nordsee“ entwirft er in der Nachfolge Schillers ein gewaltiges Naturporträt unter der Überschrift „Die Götter Griechenlands“, in dem die Wolkenbildung die Götter von Hellas darzustellen scheint, die „einst so freudig die Welt beherrschten, / Doch jetzt, verdrängt und verstorben, / Als ungeheure Gespenster dahinziehn / Am mitternächtlichen Himmel“. Er betrachtet das „luftige Pantheon“ und kommt in seiner Anrede zu dem Ergebnis:

„Doch auch die Götter regieren nicht ewig, / Die jungen verdrängen die alten, / Wie du einst selber den greisen Vater / Und deine Titanen-Öhme verdrängt hast, / Jupiter Parricida!“

Der Vatermörder Zeus/Jupiter und sein Anhang feiern später in „Die Götter im Exil“ ihre gespenstische Auferstehung. Mythologie und Religion bleiben Geschwister10. Volksfrömmigkeit und Aberglaube bilden dabei den Abglanz von religiösen Prozessen, die nicht schaden, falls sie schlicht und harmlos verlaufen. Sie verlieren aber im Fanatismus jeden Halt, wenn die heilige Botschaft für barbarische Zwecke missbraucht wird. Das gilt gemäß Heine’scher Skepsis für alle Religionen.

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