Glaube an Christus und Humanismus

Nicht erst als Papst, sondern schon vor mehr als dreißig Jahren hatte sich Jorge Mario Bergoglio mit Fragen des Humanismus und der Inkulturation des Christentums auseinandergesetzt. Die Thesen zeigen die Kontinuität im Denken des argentinischen Jesuiten.

Dieser Artikel gibt - in einer vom Heiligen Vater überprüften Fassung - einen großen Teil der Eröffnungsrede und des Schlusswortes wieder, die der damalige Pater Jorge Mario Bergoglio an die Teilnehmer eines internationalen Theologenkongresses richtete. Der Kongress hatte das Thema „Evangelisierung der Kultur und Inkulturation des Evangeliums“, war von Bergoglio vorbereitet und wurde an der Theologischen Fakultät der Jesuiten in San Miguel (Argentinien) vom 2. bis 6. September 1985 gehalten. Er wurde zur Vierhundertjahrfeier der Ankunft der Jesuiten in Argentinien (1585-1985) veranstaltet; an ihm nahmen Theologen aus Nord- und Südamerika, Europa, Asien und Afrika teil. Die Texte wurden in dem Buch „Evangelización de la cultura e inculturación del evangelio“ (Buenos Aires, Guadalupe 1988) veröffentlicht.

Als Johannes Paul II. in seiner Rede an die Universitätsgemeinschaft von Löwen dazu aufforderte, „eine Pastoral der Intelligenz voranzubringen“1, sprach er eine Wahrheit aus: „Glaube und Kultur gehen beide aus dem unendlichen Reichtum des göttlichen Wortes hervor, das zugleich Grund und Sinn, Quelle und Fülle ist.“2 Das Wort ist Quelle des Glaubens, der von Natur aus darauf ausgerichtet ist, unser menschliches Leben auf seine Fülle hin wachsen zu lassen. Das Wort ist auch Fülle der Kultur, weil im Besten einer jeden Kultur ein Aspekt dieses Wortes in einer besonderen Weise inkarniert ist.

Auf dieser Grundlage fuhr der Papst fort, seinen Gedanken zu erklären und sagte, dass

„der Glaube Quelle der Kultur und die Kultur Ausfluss des Glaubens ist. Das ist die Auffassung, die ihr sicher teilt und die mich dazu bestimmt hat, den Päpstlichen Rat für die Kultur zu schaffen.“3

Tatsächlich „gehört es zur Natur des christlichen Glaubens, dass er das menschliche Leben zur Entfaltung bringt […]; so stellt er eine hervorragende Art von Humanismus dar.“4 Das Beste in jeder Kultur ist Ausdruck für den Reichtum des Evangeliums:

„Jeder Mensch, jedes Volk ist dazu gerufen, auf die Liebe des Herrn mit seinen Qualitäten, seinen Talenten, seinen spezifischen Möglichkeiten zu antworten. Auf diese Weise drückt unsere persönliche Kultur und die unseres Volkes die allgemeine christliche Berufung aus, die auf individuell verschiedene Weisen inkarniert ist.“5 Am Schluss lud der Papst ein zur „lebendigen und fruchtbaren Symbiose von Glauben und Kultur, nicht als toter Abstraktion, sondern als Existenz voll überströmender Vitalität, bei der das Geheimnis des Glaubens im Mittelpunkt des täglichen Lebens, der Forschung, der Lehre, der Arbeit und auch des frohen und brüderlichen Zusammenlebens [der Menschen und der Völker] steht.“ 6

Die Kulturen: privilegierter Ort der Vermittlung zwischen dem Evangelium und den Menschen

Bis jetzt habe ich mich darauf beschränkt, diese Aussagen des Papstes anzuführen. Jetzt will ich zum Ausgangs- und Zielpunkt eines jeden Glaubens und einer jeden Kultur zurückkehren, den der Papst genannt hat: „der unendliche Reichtum des göttlichen Wortes“. Er sprach die Einladung aus:

„Euch alle rufe ich zu einem erneuerten Bündnis mit der ewigen Weisheit, zur Entdeckung des wunderbaren Universums, das unsere Intelligenz erfassen kann, weil es Ausdruck einer Intelligenz und Werk einer Liebe ist.“ 7

Das göttliche Wort ist die Weisheit. Mit dieser Weisheit müssen wir von Neuem ein Bündnis schließen. Das Bündnis mit der ewigen Weisheit lässt an ihr auf allen Ebenen ihres Erscheinens teilhaben.
Die Geheimnisse Gottes offenbaren, die Geschöpfe hervorbringen, wiederherstellen, vervollkommnen - das alles sind Werke der göttlichen Weisheit, die dem Wort Gottes, Jesus Christus, der Fleisch gewordenen Weisheit eigen sind8. Man kann zwei privilegierte Bereiche ihres Erscheinens unterscheiden. Auf der einen Seite das Evangelium, das Offenbarung des Heilplanes der Weisheit Gottes ist; sie geschieht durch seinen Sohn, sein sichtbares Abbild. Die Offenbarung rettet, indem sie alle Dinge in ihm wiederherstellt und zusammenfasst. Auf der anderen Seite sind die verschiedenen Kulturen als Frucht der Weisheit der Völker in ihrer Aufwärtsbewegung ein Wiederschein der Weisheit Gottes, die schafft und vervollkommnet.
Die Kulturen sind der Ort, an dem sich die Schöpfung am meisten ihrer selbst bewusst wird. Daher nennen wir das Beste bei den Völkern „Kultur“: den Gipfel ihrer Kunst, die Spitze ihrer Technik, das, was erlaubt, dass ihre politischen Organisationen das Gemeinwohl suchen, dass ihre Philosophie Rechenschaft gibt von ihrem Sein, dass ihre Religionen sich durch den „Kult“ mit dem Transzendenten verbinden. Aber diese Weisheit des Menschen, die ihn dazu bringt, von der Kontemplation - vom Schauen und Nachdenken - her sein Leben zu beurteilen und zu ordnen, wird nicht abstrakt und auch nicht individuell oder plötzlich gegeben; es ist vielmehr eine Kontemplation dessen, was mit den Händen erarbeitet wurde, eine Kontemplation, die ihren Ursprung hat im Herzen und im Gedächtnis der Völker, eine Kontemplation, die sich vollzieht durch die Geschichte hindurch undim Laufe der Zeit.
So wie Christus, die inkarnierte Weisheit Gottes, der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, könnte man sagen, dass die Kulturen der Völker als Ausdruck ihrer Weisheit der privilegierte Ort der Vermittlung zwischen dem Evangelium und den Menschen sind; das wird garantiert durch die Tatsache, dass sie die Frucht des gemeinsamen Bemühens im Lauf der Geschichte sind. Das Absolute des Evangeliums findet gerade im Herzen der Kultur der Völker, in ihrer tatsächlichen und weisen Art, nach transzendenten Werten ihr tägliches Leben zu ordnen, einen fruchtbaren Boden, auf dem der Mensch aus eigenem Antrieb wächst; das ist die Art und Weise Gottes, zu evangelisieren, hervorzubringen, wiederherzustellen und zu vervollkommnen.
Wenn wir uns darauf besinnen, dass Glaube und Kultur aus dem unendlichen Reichtum des göttlichen Wortes kommen und dass dieses gleichzeitig Grund und Sinn, Quelle und Fülle ist, nehmen wir für die Begegnung von Glaube und Kultur nach dem doppelten Aspekt der Evangelisierung der Kultur und der Inkulturation des Glaubens „ein weisheitliches Moment“ in Anspruch, das seinem Wesen nach vermittelnden Charakter hat und den Ursprung (Bewegung der Schöpfung) und die Fülle und das Ziel (Bewegung der Offenbarung) garantiert. Auf die Weise, wie die Weisheit, die schafft und plant, unter uns auf dem Weg war, so beteiligt sie sich am Formen des Erkenntnisprozesses selbst und macht, gerade weil sie Vermittlerin ist, ein „Moment“ des Erkenntnisaktes aus: ein Moment, das „Begegnung“ mit sich bringt - in diesem Fall zwischen Glauben und Kultur -, und fundamental ein weisheitliches Moment ist.
Das weisheitliche Moment in der Beziehung Evangelium - Kultur, das die Rede von „die Kultur evangelisieren und das Evangelium inkulturieren“ benützt, entspricht dem Wesen der Weisheit selbst, deren Hauptakt die Kontemplation ist: Schau Christi im Glauben, vermittelt durch das Evangelium und die Kirche; Schau einer jeden Kultur.
Die weisheitliche Schau der Kulturen verlangt an erster Stelle, dass ihre höchsten und tiefsten Ursachen in den Blick genommen werden, weil es dem Weisen eigen ist, die letzten Ursachen in den Blick zu nehmen (sapientis est altissimas causas considerare)9. Sie verlangt an zweiter Stelle, dass ihre Ursachen in ihren und durch ihre Verwirklichungen betrachtet werden. Tatsächlich verbirgt sich die tiefe Weisheit der Völker in den einfachsten kulturellen Handlungen und Werten. Es geht um die Weisheit, die alles ordnet, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, und die sich trotzdem nicht in der Form eines Befehls äußert10. Das Dokument von Puebla zum Beispiel blickt auf die Kontemplation als Erkenntnisweise, die dem „weisheitlichen Moment“ der Begegnung von Glaube und Kultur angeboren ist, und spricht von der Liebe zu den Völkern als Ausgangspunkt, um sie kennenzulernen „nicht nur auf wissenschaftliche Weise, sondern auch aufgrund der ihr angeborenen Fähigkeit zu verstehen, die ihr die Liebe gibt“ 11.
Auf die Einladung von Johannes Paul II., ein „erneuertes Bündnis“ mit der ewigen Weisheit zu suchen, sind wir von der Betrachtung des fleischgewordenen Wortes zum „weisheitlichen Moment“ im Prozess der Begegnung zwischen Glaube und Kultur gekommen; bei ihr schließt die Kontemplation eine konnaturale Fähigkeit ein, das Evangelium und die Kulturen zu verstehen, die uns nur von der liebevollen Weisheit gegeben wird.

Inkulturation und Heiligkeit

In diesem Zusammenhang gebrauchte P. Pedro Arrupe, Generaloberer der Gesellschaft Jesu, das damals neue Wort „Inkulturation“ bei der Bischofssynode von 1974 über die Evangelisierung. Er war es, der mit dem Mut eines Propheten - eines Propheten, der die Geschichte der ersten Jesuitenmissionare (Franz Xaver, Ricci, Valignano, Desideri, De Nobili, Barzana, Roque González de Santa Cruz, José de Acosta usw.) neu zu lesen wusste - 1978 einen langen und dichten Brief über die Inkulturation an die ganze Gesellschaft Jesu geschrieben hat. Er war es, der, angesichts der so verschiedenen kulturellen Situationen in Indien und aus Sorge für das Werk der Evangelisierung, Ausbildungshäuser (für das Philosophie- und Theologiestudium) in der Sprache und Kultur von Gujarati, Hindi, Tamil und Marathi geschaffen hat. Er war es, der zu Studien über dieses Thema an der Universität Gregoriana in Rom ermutigt und der jede Anstrengung, im Verständnis dieser komplizierten Problematik voranzukommen, unterstützt hat.
Gerne erinnere ich an diesen Mann - wir Jesuiten durften über lange Jahre seine väterliche Art erfahren -, der als junger Missionar in Japan mit Bleistift und Papier zur Predigt der Bonzen ging, um die Logik des Denkens jenes Volkes zu entdecken, zu dem er gesandt war, und um dann diese Logik bei seiner Predigt des Evangeliums anzuwenden.
Die Grundlage für diese Anstrengung ist das Wissen, dass es für die Aufgabe, die Kulturen zu evangelisieren und das Evangelium zu inkulturieren, eine Heiligkeit braucht, die den Konflikt nicht fürchtet und die zu Ausdauer und Geduld fähig ist. Diese Heiligkeit schließt vor allem ein, dass man keine Furcht vor dem Konflikt hat, sie verlangt parrhesia (das klare und offene Wort), wie der heilige Paulus sagt. Dem Konflikt ins Auge schauen, nicht um in ihn verstrickt zu werden, sondern um ihn zu überwinden, ohne ihn zu überspielen. Dieser Mut hat einen mächtigen Feind: die Furcht. Diese kann uns angesichts extremer Haltungen von der einen und der anderen Art zur schlechtesten extremen Haltung führen, die es gibt, nämlich zum „Extremismus der Mitte“, der jede Botschaft zunichtemacht. Die parrhesia ist schöpferisch und lässt sich daher von keinem Extremismus umgarnen. Die apostolische parrhesia ist also eine der Eigenschaften dieser Heiligkeit, die heute im Bereich der Kultur aktiv werden muss.
Der heilige Roque González de Santa Cruz sagte in einem Brief an seinen Provinzial P. Diego de Torres:

„Hier lebe ich und sterbe zugleich und fürchte den Verstand zu verlieren, da mein Kopf müde ist und niedergedrückt wird durch den ständigen Krieg, den ich mit vielen Skrupeln und großer Einsamkeit und Melancholie führe; dennoch sage ich, dass ich entschlossen bin, hier zu bleiben, auch wenn ich tausendmal sterben und tausendmal den Verstand verlieren müsste; es wären für mich nicht Verluste, sondern Gewinne.“ 12

Und das ist eine zweite Eigenschaft der Heiligkeit, die besonders für die Aufgabe, die Kulturen zu evangelisieren und das Evangelium zu inkulturieren, von uns verlangt wird: Ausdauer und Geduld, die andere Seite des Mutes, die hypomone. Es ist die tägliche apostolische Geduld, die uns dazu bringt, dem Leiden und dem Fest, der Freude und dem Schmerz ins Auge zu blicken. Geduld, Ausdauer, Ertragen - sie öffnen unser Herz dafür, dass wir mit unseren Brüdern diese Werte teilen, die unserer Pastoral der Kultur sicherlich einen schöpferischen Sinn einflößen können.
Der Mut und die Geduld, die parrhesia und die hypomone, werden immer am Kreuz gegeben, führen in die Schmiede des Kreuzes. Der heilige Roque bezieht sich beim Erzählen der zahllosen Widrigkeiten und Verfolgungen, die ihm bei seiner apostolischen Arbeit begegneten, selber auf das Kreuz:

„Es war wirklich ein großer Akt der Verehrung, dass die Indios vor der Kirche ein Kreuz aufgerichtet haben. Nachdem wir ihnen den Grund gesagt hatten, warum wir Christen das Kreuz verehren, haben alle, wir und sie, das Kreuz auf den Knien verehrt. Auch wenn es das letzte ist in diesen Gegenden, hoffe ich in unserem Herrn, dass es ein Anfang sei und dass viele andere aufgerichtet werden.“ 13

Das Zeichen des Kreuzes erinnert an jenes Kreuz, an dem das Wort sein Erlösungswerk vollendet hat, indem es sich vollständig in die Natur der Menschen, in unsere Kultur einfügte: und es fügte sich ein indivise und inconfuse (ohne Trennung und ohne Vermischung).

(Aus dem Italienischen übertragen von Klemens Stock SJ.)

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Papst Franziskus liest Jorge Mario Bergoglio

In einem Satz zusammengefasst: Papst Franziskus liest Jorge Mario Bergoglio SJ - und approbiert einen dreißig Jahre alten Text. Weil er im Lichte der neuen Funktion als Bischof von Rom und vor dem Hintergrund der abgeschlossenen zweiten Familiensynode (Oktober 2015), auf der die Frage einer zeitgemäßen Sprache kirchlicher Verkündigung und die Frage des Verhältnisses von Kultur und Glaube eine wichtige Rolle spielten, neue Aktualität und damit Bedeutung erhalten hat.
Der Text „Glaube an Christus und Humanismus“, den Antonio Spadaro SJ1 in der Ausgabe 3970 vom 28. November 2015 der Zeitschrift „La Civiltà Cattolica“ in italienischer Übersetzung, zusammen mit einer redaktionellen Einleitung, veröffentlicht hat2, erschien im spanischen Original zuerst in der Zeitschrift „Stromata“ 3, der 1944/45 unter dem Namen „Ciencia y Fe“ gegründeten und 1965 umbenannten Zeitschrift der beiden Fakultäten für Philosophie und Theologie der Universität von Salvador in San Miguel, Argentinien - in zwei Teilen.

Ein internationaler Theologenkongress von 1985

Die Neuveröffentlichung auf Italienisch - die Klemens Stock SJ, emeritierter Professor am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom und langjähriger Sekretär der Päpstlichen Bibelkommission, ins Deutsche übertragen hat - stellt, unter Weglassung der üblichen anlassbedingten Grußadressen an verschiedene Autoritäten, eine Kompilation der kurzen Eröffnungs- („Discurso inaugural“) und der Schlussrede („Palabras de clausura del Congreso“) des damaligen Kollegsrektors dar, der die Funktion des Präsidenten des Kongresses innehatte.
Die internationale Tagung führte Wissenschaftler aus Latein- und Nordamerika, Afrika, Asien und Europa zusammen. Die Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist in den „Stromata“ ebenfalls abgedruckt4. Die meisten von ihnen, etwas über fünfzig, kamen naturgemäß aus Argentinien, Jesuiten (darunter Juan Carlos Scannone, Bergoglios Lehrer), andere Ordensleute und weitere Personen. Die anderen lateinamerikanischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammten aus Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Guatemala, Mexiko, Paraguay, Peru, Uruguay, aus der Dominikanischen Republik und aus Venezuela. Afrika war mit zwei Repräsentanten, aus Kamerun und Zaire, vertreten, Asien mit drei (China und Indien), die USA (Virgilio Elizondo) und Kanada jeweils mit einem, Europa mit sieben Vertretern aus Italien, Frankreich (Kardinal Paul Poupard, Jean-Yves Calvez SJ), Spanien und Deutschland, darunter Peter Hünermann aus Tübingen und Michael Sievernich SJ aus Frankfurt (Sankt Georgen).
Anlass des vom 2. bis 6. September 1985 dauernden Kongresses war die Erinnerung an den 400. Jahrestag der Ankunft der ersten Jesuiten in Argentinien (1585-1985)5: „Evangelisierung der Kultur und Inkulturation des Evangeliums“ (Evangelización de la cultura e inculturación del evangelio). Die einzelnen Beiträge waren der historischen Rückschau, der aktuellen Problematik, der theologischen Reflexion und weiterführenden pastoralen Perspektiven gewidmet (Momento Histórico, Problemática Actual, Reflexión Teológica, Perspectivas Pastorales). Als Koordinator fungierte der argentinische Jesuit Diego Javier Fares6, der zu einem engen Vertrauten von Jorge Mario Bergoglio werden sollte, jetzt in Rom arbeitet und Mitglied der Redaktion der „Civiltà Cattolica“ ist. Sein im Juni 2015 erschienener Artikel über die Gestalt des Bischofs bei Papst Franziskus („La figura del vescovo in Papa Francesco“) wurde im Sommer 2015 im Vorfeld der Bischofssynode in verschiedenen Sprachen, darunter auch auf Deutsch7, veröffentlicht; eine erweiterte Fassung in Buchform hat Papst Franziskus zum Abschluss der Familien-Bischofssynode allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern geschenkt.
Die Doppelausgabe von „Stromata“ (Julio - Diciembre 1985 - No. 3/4 - Extraordinario) dokumentiert sämtliche Wortbeiträge des Kongresses8, der dann 1988 auch in Buchform erschienen ist9. Es existiert auch eine englische Übersetzung, die bereits am 16. November 2015 in der Jesuitenzeitschrift „America“ (New York) 10 und am 19. November 2015 auf der Website des britischen Online-Journals „Thinking Faith“ gepostet wurde11.

Ein „Pastoralista“ mit dem Ohr zum Volk

Jorge Mario Bergoglio war unmittelbar nach seiner Zeit als Provinzial der argentinischen Jesuitenprovinz (1973-1979) zum Rektor des Kollegs „San José“ in San Miguel (1980-1986) im Gran Buenos Aires ernannt worden. Gleichzeitig wirkte er als Pfarrer. Der internationale Theologenkongress, dessen Thema nach Daniel Deckers „Bergoglio aus dem Herzen gesprochen“ gewesen sein dürfte, war „Höhepunkt und Abschluss seiner Zeit als Rektor des Colegio“:

„Er, der sich als Provinzial und Rektor vehement gegen die Übernahme europäischer Denkformen wie den Marxismus, die protestantische Aufklärung oder eine kritiklose Wissenschaftsgläubigkeit gestemmt hatte, kann nun erleben, dass seine Bemühungen Früchte getragen haben: damit aber auch die Bemühungen der argentinischen Theologen der ersten und zweiten Generation, die seit Mitte der sechziger Jahre versucht hatten, eine Theologie des Volkes zu formulieren.“12

Diese „Theologie des Volkes“13 ist eine argentinische Variante eigener Prägung der Befreiungstheologie, die der „Pastoralista“ Jorge Mario Bergoglio repräsentiert:

„Papst Franziskus war und ist kein Wissenschaftler […]. Und doch ist er ein faszinierender Theologe, seine Ansprachen und Predigten sind von einer impliziten Theologie geprägt, die aus dem spezifisch argentinischen Weg der Rezeption des 2. Vatikanischen Konzils erwächst und die der von den ,curas villeros‘ gelebten ,Option für die Armen‘ verbunden ist.“14 Natürlich gilt: „Stil ist noch keine Theologie.“15

Aber auch wenn die Kirche seit März 2013 keinen „Professor Dr. Papst“ hat, gibt es nach Sievernich doch zu denken, wenn gerade aus dem innerkirchlichen Bereich Stimmen laut werden, die sich „über die ,Copacabana-Theologie‘ des neuen Papstes“ lustig machen:

„Eine Theologie, die auf Fragen der Adressaten antwortet, nimmt ihren Kontext in den Blick, bleibt nicht selbstbezüglich, sondern geht an die Peripherien. In diesem Sinn darf man ,Theologie‘ nicht auf dogmatische Summen oder akademische Produkte beschränken, sondern muss auch dem theologischen Gehalt der Ansprachen und Gesten, der Frömmigkeitspraxis der Leute und der Jugendspiritualität nachspüren.“ 16

Der jetzt unter dem Titel „Glaube an Christus und Humanismus“ veröffentlichte Text gibt einen frischen, unmittelbaren Einblick in das Denken von Jorge Mario Bergoglio aus den 1980er-Jahren. Als Papst ist sich der ehemalige Novizenmeister, Provinzial, Rektor, Seelsorger, Weihbischof (1992), Erzbischof (1997) und Kardinal (2001) Jorge Mario Bergoglio treu geblieben. Sein Denken lässt Linien erkennen:

„Das theologische Profil von Papst Franziskus erschließt sich wesentlich aus den Quellen einer gelebten ignatianischen Spiritualität und jesuitischen Programmatik einerseits, und andererseits aus der in seinem lateinamerikanischen Heimatland Argentinien geübten pastoralen und episkopalen Praxis mit besonderem Sensus für das Volk (Gottes). Diese Quellen sind freilich, um bei der Metapher zu bleiben, nicht so beschaffen, dass ein Schluck aus ihnen genügen würde, vielmehr muss man lebenslang daraus trinken.“ 17

Wer - wie Marco Politi - beobachtet, das „Ende der imperialen Kirche“ bedauert und über den „Pfarrer im Vatikan“18 tuschelt, durchlebt wechselvolle Zeiten. „Wird die Kirche jesuitisch?“, oder besteht die ernsthafte Alternative „jesuitisch oder franziskanisch?“: „Die Kirche soll nicht jesuitischer werden, sondern sie geht zu Jesus und zur Schrift zurück; zugleich übersetzt sie das Christentum besser in die heutige Zeit und wird in diesem Sinn moderner.“19
In seinen Überlegungen „Glaube an Christus und Humanismus“ begegnet ein Jorge Mario Bergoglio, dessen Quellen der Inspiration, ob zitiert oder nicht, wie ein aufgeschlagenes Buch sind: die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils vom Dezember 1965, das Apostolische Schreiben „Evangelii nuntiandi“ von Papst Paul VI. vom Dezember 1975 - sein eigenes Apostolisches Schreiben vom November 2013 „Evangelii gaudium“ nimmt nicht nur semantisch darauf Bezug, sondern weiß sich diesen beiden wichtigen kirchlichen Wegstationen inhaltlich verpflichtet -, das Dokument der III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats in Puebla (CELAM) vom Februar 1979.
Neben der Rede von Johannes Paul II. vor Professoren und Studierenden der Universität Löwen (Belgien) vom 20. Mai 1985 („promuovere una pastorale dell’intelligenza“, „een pastoraal van het intellect tot ontwikkeling“20) sind Thomas von Aquin („Scriptum super libros sententiarum“, „Summa contra gentiles“, „Sententia libri ethicorum“) sowie das Puebla-Dokument zitiert, außerdem zwei Briefe des in Paraguay geborenen, in Brasilien verstorbenen Jesuitenmissionars und Märtyrers Roque González de Santa Cruz (1576-1628), der 1988 heiliggesprochen werden sollte. Ohne Quellenangabe erwähnt ist ein Text des damaligen Generaloberen der Jesuiten, Pedro Arrupe SJ (1907-1991), der im Mai 1978 - in der Nacharbeit der 32. Generalkongregation des Ordens 1974/75 (an der Jorge Mario Bergoglio als Provinzial teilgenommen hatte) - einen Brief an die ganze Gesellschaft Jesu „Über die Inkulturation“ gerichtet hatte21.

Dauerbrenner Inkulturation

Man muss nur noch das Schlussdokument der V. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida vom Mai 2007 dazu denken - auf Jorge Mario Bergoglio „beziehungsweise die vier Theologen aus Argentinien, die er als seine Berater mit nach Brasilien mitgenommen hat, gehen der Aufbau und weite Passagen des Schlussdokumentes zurück“22 -, und man hat die wesentlichen Quellen beisammen. Jorge Mario Bergoglio weiß, wo er nachschauen, wen er zitieren, worauf er hinweisen muss.
Er kennt auch die Halbwertszeit kirchlicher Dokumente: „Wenn du wissen willst, was die Kirche glaubt, dann gehe zum Lehramt […], aber wenn du wissen willst, wie die Kirche glaubt, dann gehe zum gläubigen Volk.“ 23 Fast ironisch bemerkt er später in „Evangelii gaudium“: „Ich weiß sehr wohl, dass heute die Dokumente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu anderen Zeiten und schnell vergessen werden.“ (EG 25)
Doch die Frage, wie das Evangelium bei Menschen ankommen, „landen“ kann, heute, in einer Sprache, die auch verstanden wird, bleibt aktuell. Inkulturation ist ein Dauerbrenner. Es kann also nicht verwundern, dass Papst Franziskus in seiner Ansprache zum Abschluss der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode am 24. Oktober 2015 das Thema erwähnt hat:

„Tatsächlich sind die Kulturen untereinander sehr verschieden, und jeder allgemeine Grundsatz - wie ich sagte: die vom Lehramt der Kirche genau definierten dogmatischen Fragen - jeder allgemeine Grundsatz muss inkulturiert werden, wenn er beachtet und angewendet werden soll. Die Synode von 1985, die den zwanzigsten Jahrestag des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils feierte, hat die Inkulturation beschrieben als die ,innere Umformung der authentischen Kulturwerte durch Einbindung in das Christentum und zugleich die Einwurzelung des Christentums in die verschiedenen menschlichen Kulturen‘. Die Inkulturation schwächt nicht die echten Werte, sondern zeigt deren wahre Kraft und ihre Authentizität, denn sie passen sich an, ohne sich zu verwandeln, ja, sie bewirken gewaltlos und stufenweise eine Umformung der verschiedenen Kulturen.“ 24

Die Evangelisierung der Kultur wie die Inkulturation des Evangeliums gehören zum „Kerngeschäft“ der Kirche. Sonst beschäftigt sie sich nur mit sich selbst. Und selbst die vielzitierte, als programmatisch empfundene kurze Rede von Kardinal Bergoglio im sogenannten Vorkonklave, die Kirche sei „aufgerufen, aus sich selbst heraus und an die Ränder zu gehen“25, taucht der Sache wie der Diktion nach bereits in einer Katechese vom März 2005 auf:

„Fassen Sie Mut und denken Sie die Pastoral und die Katechese von den Rändern her, denken Sie an diejenigen, die am weitesten entfernt sind, die in der Regel nicht in die Kirche gehen. Auch sie sind zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen. Vor einigen Jahren habe ich bei einem EAC zu Ihnen gesagt: Kommen Sie heraus aus Ihren Löchern! Heute sage ich es noch einmal: Kommen Sie heraus aus der Sakristei, dem Pfarrbüro, den VIP-Lounges, gehen Sie hinaus! Und vor allem praktizieren Sie eine Katechese, die niemanden ausgrenzt, die andere Rhythmen beherrscht und offen ist für die neuen Herausforderungen dieser komplexen Welt. Seien Sie keine starren Funktionäre, keine Fundamentalisten einer Planung, die ausgrenzt.“ 26

„Pastorale und spirituelle Leitmotive“ 27 des Erzbischofs von Buenos Aires und vormaligen Seelsorgers und Jesuitenoberen, so Sievernich, sind durchgängig sichtbar und lassen das Profil von Papst Franziskus erkennen. Er hat sich am 13. März 2013 nicht neu erfunden28. Das zeigt auch der Text „Glaube an Christus und Humanismus“.

Andreas R. Batlogg SJ

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