Chinua AchebeGründervater der afrikanischen Literatur

Chinua Achebe, Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2002, gilt allgemein als Gründervater der afrikanischen Literatur. Eckhard Breitinger, emeritierter außerplanmäßiger Professor für Anglistik und Koordinator für den Afrikaschwerpunkt an der Universität Bayreuth, stellt Leben und Werk des Schriftstellers vor.

Seinen 80. Geburtstag beging Chinua Achebe am 16. November 2010. Die Brown University in Providence feierte ihren Gast mit einem Achebe Colloqium on Africa, zusammen mit Kollegen aus Literatur und Wissenschaft, aber auch mit Diplomaten, Politikern, Menschenrechtlern - eine erlauchte Gesellschaft, wie sie schon 2008 beim 50jährigen Jubiläum des Erscheinens von Achebes berühmtestem Roman "Things Fall Apart" zusammengekommen war.

Das Symposium zu Achebes 60. Geburtstag hatte noch in seiner Heimat an der University of Nigeria in Nsukka stattgefunden. Der Wissenschaftsstandort Rhode Island und Massachusetts war diesmal als Veranstalter gefragt, weil Chinua Achebe am 22. März 1990 auf der berüchtigten Straße von der Bezirkshauptstadt Enugu nach Onitsha Opfer eines schweren Unfalls wurde. Seither ist er querschnittsgelähmt und kommt als Rollstuhlfahrer in den USA besser zurecht als in Nigeria. Bard College - eines der amerikanischen "liberal arts colleges" - hat Chinua Achebe eine "behindertengerechte" Professur angeboten.

Schreiben für ein unabhängiges Nigeria

Chinua Achebe gilt als "Vater" der afrikanischen Literatur. "Things Fall Apart" aus dem Jahr 1958 war zwar nicht das erste englischsprachige Werk eines afrikanischen Autors. Sol Plaatje, Mitbegründer und Funktionär des African National Congress ANC in Südafrika, hat schon in den 20er Jahren den Roman "Mhudi" veröffentlicht. Und Amos Tutuola, Achebes nigerianischer Landsmann, hatte 1952 mit "The Palm Wine Drinkard" eine vom britischen Lyriker Dylan Thomas stürmisch gefeierte, innerhalb Nigerias aber umstrittene, der mündlichen Yoruba-Literatur nachempfundene Erzählung vorgelegt.

"Things Fall Apart" wurde schnell zum Beststeller, zum Leitstern einer kulturellen Entwicklung im Afrika der Unabhängigkeitsbewegungen, der Zeit des "national culturalism". Der Roman wurde millionenfach verkauft und übersetzt, mehrmals verfilmt, auch als Serie im nigerianischen Fernsehen. Chinua Achebe hat zwar keinen Literatur-Nobelpreis erhalten wie sein Landsmann Wole Soyinka 1986, aber sonst eigentlich alle denkbaren Literaturpreise und Auszeichnungen bekommen, einschließlich des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2002. Über kein anderes afrikanisches Buch, über keinen anderen afrikanischen Autor sind so viele wissenschaftliche und feuilletonistische Kritiken geschrieben worden. Die Liste der Dissertationen, Monographien, Sammelbände über Chinua Achebe füllt Seiten.

Entscheidender jedoch als die große Resonanz in der akademischen Kritik ist die Rolle, die "Things Fall Apart" in den Lehrplänen zugeschrieben wird. Es war das erste Buch eines afrikanischen Autors, das als Pflichtlektüre in die Lehrpläne der Sekundarschulen und in die Universitätscurricula einging. Daß die Kultur- und Schulpolitiker der jungen afrikanischen Staaten die Vorherrschaft der imperialen Literatur durch heimische Texte ersetzen wollten, ist nur verständlich. Achebes Text fand aber auch sofort Eingang in die Lehrpläne der amerikanischen Universitäten, in die Black Studies-Studiengänge. Selbst in den Leselisten der deutschen Gymnasien ist er seit einigen Jahren zu finden. Die Schlüsselrolle, die Leitfunktion von Achebes Roman auf der internationalen Ebene steht außer Frage.

Chinua Achebes Roman vereinigt die wesentlichen, teils höchst kontroversen Merkmale postkolonialer Literatur. Die Sprache des Romans ist Englisch, also die imperiale Sprache der Kolonialmacht, die ihre "Great Tradition", ihren Literaturkanon, unerbittlich in den Lehrplänen der Kolonien durchgedrückt hatte. Schon der Titel "Things Fall Apart" weist auf die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Großmachtgehabe hin. Es ist ein Zitat des irischen Autors William Butler Yeats, der Führungsfigur der irischen Renaissance, die um die Jahrhundertwende (1900) die Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit irischer Literatur und Kultur gegenüber der britischen Herrschaft proklamierte. Diese Schreibmotivation und auch die dadurch bedingte Erzählstrategie der "Gegenrede", der Selbstartikulation des Kolonisierten gegenüber dem Kolonisierer, ist als Strategie des "Writing Back", des Dagegenhaltens in das literaturkritische Inventar eingegangen. "Writing Back" als Erzählstrategie und Motivation schließt nahtlos an den kritischen Ansatz der Intertextualität an, der ab den 70er Jahren in der Literaturkritik prominent wurde, sich aber bei den postkolonialen Literaturen als besonders produktiv erwies.

Achebes Roman spielt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das ist die Zeit, als in England David Livingstone und Henry Morgan Stanley mit ihren Missions- und Entdeckerberichten aus Afrika Auflagen- und Einnahmenrekorde erzielten. Es ist aber auch die Zeit, als die Briten von der ehemaligen Sklavenhandelszentrale Bonnie im Nigerdelta ins Hinterland vorstießen, um dem "legitimen Handel" (statt Sklavenhandel) zum Durchbruch zu verhelfen. Objekt der Begierde war der Ölreichtum der Region, damals allerdings das Palmöl, unersetzlicher Rohstoff für die sprunghaft wachsende chemische Industrie im Norden. 80 Jahre später führte der Streit um Erdöl in eben dieser Region zum nigerianischen Bürgerkrieg/Biafrakrieg, dessen Nachhall bis heute im Niger-Delta anhält.

"Binnenethnologie" als Gegenrede

Achebe erzählt die Geschichte des Dorfes Umuofia mit seinem geradezu fundamentalistischen Ibo-Traditionalisten Okonkwo (deutscher Titel: "Okonkwo oder Das Alte stürzt"). Aus dem Nachbardorf kommen Gerüchte über das Auftreten von weißen Männern (weiße Haut ist ein Symptom für Krankheit/Tod), die auf eisernen Pferdeskeletten (Fahrrädern) reiten. Okonkwo ist krampfhaft bemüht, die alten Ibo-Tugenden von Mut, Tapferkeit, Prinzipientreue einzuhalten und gerät gerade wegen dieser Überidentifizierung mit der Ibo-Tradition immer wieder in Konflikt mit den moderaten Kulturpragmatikern.

Ein Schlüsselereignis ist die Tötung des Jungen Ikemefuma - auch wegen "unangemessener Grausamkeit" der Darstellung in der Kritik bemängelt. Ikemefuma stammte aus dem Nachbardorf und war Umofia als "Blutgeisel" zur Kompensation eines Tötungsdelikts überlassen worden. Er wuchs im Haushalt von Okonkwo auf und "nannte ihn Vater". Als eine Seuche das Dorf bedroht, fordert das Dorforakel, daß Ikemefuna im Wald der Dämonen geopfert werden müsse. Okonkwos Freund Obierika warnt ihn, er solle sich aus dieser Sache heraushalten. Okonkwo aber will keine Schwäche zeigen. Er geht hinter Ikemefuma, und als der mit der Tötung beauftragte Dorfälteste versagt und Ikemefuma sich hilfesuchend zu seinem "Vater" wendet, zückt Okonkwo die Machete und tötet seinen Pflegesohn. Okonkwo hat zwar ein Gebot des Orakels ausgeführt - also in göttlichem Auftrag gehandelt - sich aber doch in den Augen der Dorfgemeinschaft an den Grundprinzipien der Erdgöttin versündigt.

Eine afrikanische Tragödie

Als sich bei einer Beerdigung aus Okonkwos Vorderlader ein Schuß löst und den Sohn seines Nachbarn tötet, ist Okonkwo im Dorf nicht länger tragbar. Da es sich um einen Unfall, nicht um eine Tötungsabsicht handelt, ist Okonkwos Verbrechen ein "weibliches Verbrechen", das mit Verbannung in das Dorf seiner Frau geahndet wird: sieben Jahre Verbannung in einer Gemeinde, in der Okonkwos Verdienste nichts zählen.

Als er nach Umuofia heimkehrt, sind auch dort die Missionare angekommen, und - The flag follows the cross - afrikanische Hilfspolizisten fremder Stämme treiben Steuern ein. Okonkwos Sohn, vom Ibo-Fundamentalismus seines Vaters genervt, ist als einer der ersten zum Christentum übergetreten. Okonkwos Ibo-Welt zerfällt - "falls apart". Okonkwo widersetzt sich den Steuereintreibern, wird verhaftet, schließlich tötet er einen Polizisten. Er will mit seiner Tat für das Volk von Umuofia ein Fanal zum Widerstand setzen, um die Briten wieder zu vertreiben. Aber das Volk folgt ihm nicht, und in seiner Verzweiflung verstößt Okonkwo gegen das strikteste Tabu der Erdgöttin: Er begeht Selbstmord. Damit hat er sich aus der Gemeinschaft der Lebenden und deren Ahnen ausgeschlossen, es steht ihm kein ordnungsgemäßes Begräbnis zu, er muß im Wald der Dämonen verscharrt werden, aber keiner aus dem Dorf darf ihn anfassen. So wird Okonkwo, Träger aller Ehrentitel und Verkörperung bester Ibo-Traditionen, von den Hilfspolizisten der Briten, von ortsfremdem Gesindel, vom Baum geschnitten und ehrlos im Wald der Dämonen verscharrt.

Eine größere ideelle Katastrophe ist im Wertesystem der Ibo eigentlich nicht vorstellbar. Okonkwo ist nicht durch Bösartigkeit, sondern durch Prinzipientreue für die Werte seiner Ibo-Gesellschaft schuldig geworden. Er gab sich der Hybris des fundamentalistischen Traditionalisten hin, er wollte seinen Ibo-Göttern dienen, hat aber dabei doch gegen ihre Gebote verstoßen. Es ist ein Exemplum des Tragischen, wie in dem klassisch-griechischen Poetiklehrbuch des Aristoteles.

Dem Afrikaner wurde ja aus westlicher Sicht das Kaliber, die Größe zur echten Tragik immer abgesprochen. Er brachte es aus westlicher Sicht allenfalls zum melodramatischen Helden, nicht aber zur tragischen Figur. Achebe hat diese afrikanische Tragödie im Roman verwirklicht; sein Landsmann, der Yoruba Wole Soyinka, zeigte die Tragödientauglichkeit afrikanischer Charaktere in seinem Theaterstück "Death and the King's Horseman" (wo er auch Nietzsches "Geburt der Tragödie" appliziert). Wie bei Soyinka entsteht der tragische Konflikt in "Things Fall Apart" aus den inneren Spannungen der traditionellen Gesellschaft. Die kolonialistische Intervention ist lediglich ein Katalysator.

Achebe bemüht sich, ein rein sachliches Bild der Ibo-Gesellschaft zu zeichnen, eben die Binnenethnologie der imperialen Ethnologie entgegenzustellen. Zum Teil dienen ihm die Mißverständnisse auf seiten der Briten dazu, Besonderheiten deutlich zu machen. Das gilt zum Beispiel für die flache Hierarchie in der politischen Struktur der Ibo-Gesellschaft; das gilt besonders für die radikaldemokratische Meritokratie der Ibos, wo ererbter Wohlstand oder Status wenig zählen, dagegen persönlichen Verdiensten viel Wert beigemessen wird.

Okonkwo ist dafür ein Musterbeispiel. Sein Vater hat als Musiker viel zur Unterhaltung der Menschen in Umuofia beigetragen, hat aber kein Ansehen und keinen Besitz, sondern nur den Ruf eines Luftikus hinterlassen. Okonkwo hat sich seine Position in der Spitzengruppe der Gesellschaft durch Mut, Risikobereitschaft - militärisch und wirtschaftlich - und durch Fleiß erarbeitet. Okonkwos Geschichte zeigt aber auch, daß sozialer Status und politische Verantwortung jederzeit widerrufen werden können. Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und den Göttern bestimmt auch das Bodenrecht. Die Leute in Umuofia kennen nur ein Nutzungsrecht, kein individuelles Besitzrecht an Grund und Boden. So sind sie höchst irritiert, als die Engländer einzelnen Individuen Besitzrechte an Boden einräumen. Okonkwos bange Frage lautet: "Versteht denn der Engländer, wie wir mit Grund und Boden umgehen?" Sein Freund Obierika anwortet: "Wie sollte er, versteht er doch nicht einmal unsere Sprache."

Ähnliche Mißverständnisse ergeben sich in der Auseinandersetzung mit dem Missionar Mr. Smith. Seine neu bekehrten Christen haben einen Maskenträger demaskiert und damit einen unverzeihlichen Tabubruch begangen. Smith versteht laut Obierika die Gebräuche Umuofias nicht, hält sie aber für primitiv und verabscheuungswürdig. Umgekehrt halten die Dorfbewohner ihn für einen Ignoranten voller Vorurteile. Die Dorfältesten verwickeln ihn in einen theologischen Disput über Monotheismus und Polytheismus. Die Ältesten erklären Smith, daß sie nur einen Gott haben, den Schöpfergott, den sie aber nicht direkt ansprechen dürfen. Daher müssen sie sich der Dienste und Fürsprache der Ahnen bedienen. Umgekehrt halten die Ältesten dem Missionar vor, daß er von nur einem Gott rede, daß da aber doch auch der Sohn sei, und ein Dritter, diese Taube. Und dazu dann noch die Mutter des Gottessohnes, und Joseph, der Mann der Mutter, der aber nicht der Vater von Jesus ist - also eine Vielzahl von Göttern, zudem in unwürdigen Familienverhältnissen.

Auch hier verfügen die theologischen Kontrahenten nicht über ein ausreichendes gemeinsames Sprachrepertoire, um solche gedanklichen Divergenzen zu klären. Achebe zeigt aber auch einen grundsätzlichen Unterschied in der Streit- und Diskussionskultur zwischen Ibos und Engländern. Er stellt Sachverhalte, oder zumindest kulturell bestimmte Wahrnehmungen von Sachverhalten dar, er stellt Fragen zu diesen Wahrnehmungen, er stellt in Frage, aber er dogmatisiert nicht. Für den Missionar Mr. Smith oder den District Officer Wilberforce stellen sich keine Fragen. Für sie steht außer Frage, daß sie recht haben und die "Wilden" im Irrtum verharren.

Vom Kolonialismus zur Postkolonialität

Achebe hat seinen Roman in zwei komplementäre Hälften aufgeteilt. Im ersten Teil zeichnet er ein Bild der Ibo-Gesellschaft vor der Ankunft des "Weißen Mannes". Er unterstreicht damit eines seiner Ziele, als Autor seinen Lesern zu vermitteln ("The Novelist as Teacher"), daß ein Leben in Nigeria vor Ankunft der Briten "keineswegs eine endlose Nacht barbarischer Finsternis" gewesen ist. Er zeigt aber auch sehr deutlich, die Widersprüchlichkeit und die Spannungen innerhalb der Ibo-Gesellschaft. Dazu verknüpft er die Figur Okonkwos als Heros aller geheiligten Ibo- Werte mit dem Gründungsmythos des Dorfes Umuofia. Okonkwo hat sich als junger Mann seinen Platz in der Dorfhierarchie errungen durch einen Sieg im Ringkampf gegen den professionellen Ringer Amalinze. Dieser Kampf ist in die Annalen des Dorfes eingegangen, da er nur vergleichbar war mit dem Ringkampf des Gründers des Dorfes, der seinerzeit acht Tage und Nächte mit dem Dämon der Wildnis und des Chaos gerungen hat. Nach Auffassung Umuofias gründet sich ihr Gemeinwesen also auf einen siegreichen Kampf gegen die Mächte der Wildnis und des Chaos. Umuofia ist der Beleg dafür, daß seit Anbeginn - auch in Afrika - Zivilisation über die Wildnis gesiegt hat. Die Überwindung der Wildnis durch den Kulturträger Mensch markiert den Beginn menschlicher Geschichte. Es bedarf also überhaupt nicht der "Civilising Mission" des britischen Kolonialismus.

Der zweite Teil des Romans erzählt von der kolonialen Konfrontation, dem "Clash of cultures", der die traditionelle Ibo-Gesellschaft zusammenbrechen läßt. Das ist das zweite Ziel von Achebes Erzählstrategie: zu zeigen "where the rain started to beat us".

Hier hat Achebe mit der Figur des britischen District Officers eine Attacke gegen intellektuelles britisches Kolonialgehabe geritten. Als der District Officer den Schaden betrachtet, den er durch seine Taktlosigkeit angerichtet hat, sinniert er ungerührt über die publizistische Verwertbarkeit dieser Vorkommnisse:

"Die Geschichte von diesem Mann, der einen Gerichtsdiener getötet und sich dann selbst erhängt hatte, war spannend und lehrreich zugleich. Man könnte fast ein ganzes Kapitel über ihn schreiben … Oder doch einen recht langen Abschnitt."

Achebe hat dem District Officer alle unverzeihlichen Fehlleistungen des Kulturimperialisten aufgebürdet: die Anmaßung, als Vertreter der Zivilisation (europäischer Perspektive) auch die Sprecherrolle übernehmen zu müssen. Ganz selbstverständlich reißt er die Rolle des Oberexperten an sich, dem die alleinige Deutungshoheit über Sitten, Gebräuche, Verhalten und Schicksale der "Wilden" zusteht.

Obierika, der moderate Vertreter eines Ibo-Pragmatismus, versucht vergeblich, dem District Officer die Augen für seine katastrophale Fehleinschätzung der lokalen Verhältnisse zu öffnen: "Dieser Mann war einer der bedeutendsten Männer von Umuofia. Ihr habt ihn in den Tod getrieben und jetzt wird er verscharrt wie ein Hund." Der District Officer zeigt ein abstoßendes Maß an Überheblichkeit und Lernunfähigkeit. Dies ist ein direkter Angriff auf den gefeierten britischen Kolonialautor Joyce Cary, der selber District Officer in Nordnigeria war und so für sich beanspruchte, in "Mr. Johnson" und "The African Witch" ein authentisches Bild des Landes und der Menschen in Afrika zu zeichnen.

Achebe begann seinen Roman mit dem Gründungsmythos Umuofias und Okonkwos heroischem Kampf, er läßt ihn ausklingen mit dem Satz des amateurethnologisch interessierten District Officers, der sich schon einen Titel für seinen Bericht ausgedacht hat: "Die Befriedung der primitiven Stämme am unteren Niger". Anfang und Untergang, Eigendefinition und koloniale Fremddefinition der Ibo- Gesellschaft bilden den erzählerischen Rahmen von "Things Fall Apart". Implizit bezeichnet Achebe seinen Schriftstellerkollegen und -opponenten Joyce Cary als anmaßenden Ignoranten.

Fiktion als Geschichtsrevision

Neben dieser direkten Attacke gegen die selbsternannten Experten hat Achebe es sich nicht nehmen lassen, hochoffizielle Anlässe zu nutzen, um die Gemüter der Oxford/Cambridge-gestylten Kritiker in Wallung zu bringen.

Anläßlich der "Chancellor Lecture" an der University of Massachusetts 1988 hat sich Achebe den polnischstämmigen Klassiker des Imperialismus, Joseph Conrad und sein Meisterwerk "Heart of Darkness", zur Zielscheibe genommen und Conrad als unverbesserlichen Rassisten angeklagt. Damit hat Achebe einen Aufschrei der Entrüstung ausgelöst, schließlich gehört Conrads "Heart of Darkness" zu den Kerntexten der "Great Tradition". Achebe argumentiert, "Heart of Darkness" zeichne ein Bild von Afrika als der ultimativen Gegenwelt, dem ganz Anderen. Es ist die Antithese zu Europa und zur Zivilisation, ein Ort, an dem die Vernunft der Aufklärung und der Humanismus dem Triumph der Bestialität zum Opfer fallen: "Joseph Conrad was a thorough going racist" ("Hopes and Impediments", 1988).

In "Named for Victoria" berichtet Achebe über seine literarische Sozialisation durch englische Jugendbücher, wie er als naiver jugendlicher Leser automatisch die Perspektive der kolonialen Erzähler übernimmt, wie er scheinbar mit an Bord von Conrads Schiff den Kongo aufwärts schippert, bis ihm plötzlich klar wird, daß er nicht an Bord des Erobererschiffes weilt, sondern daß er einer der grotesken Wilden ist, die am Ufer im Urwald bizarre Tänze aufführen und schreckliche Grimassen schneiden.

Dieser Wechsel der Perspektive löste vor allem am Beispiel von Conrads "Heart of Darkness" eine neue antiimperialistische Lesestrategie aus, mit der die Klassiker der Fremdwahrnehmung als Musterbeispiele der Fremdenverachtung entlarvt wurden. Das Umschreiben imperialistischer Klassiker aus der Perspektive des Kolonisierten wird ein Markenzeichen postkolonialer Intertextualität. Dies galt und gilt seither für Shakespeares Prospero und Caliban ("Cannibal"), wie für Defoes Robinson und Freitag.

Achebes dokumentarischer Ansatz: Der Journalist

"Things Fall Apart" ist in der Kritik auch als eine Übersetzung des afrikanischen Kommunalismus in die Literatur gedeutet worden. Statt der hoch individualisierten Charaktere der westlichen Literatur präsentiere uns Achebe eine Figur, die kollektive Werthaltungen repräsentiere und mit einer Dorfgemeinschaft, einem Kollektiv, das erzählstrategisch wie eine Einzelfigur erscheine. Also auch hier eine afrikanische Antwort auf die ethnographisch determinierten imperialistischen Afrika-Romane, diesmal Ethnographie aus der Innensicht - nicht von europäischen Schreibtischtätern.

Nun hat Ezenwa Ohaeto, ein Schüler und Dichterkollege Achebes, in seiner Biographie (Chinua Achebe, Indiana UP, 1997) auf die journalistische Ausbildung und auch journalistische Ausrichtung Achebes in seiner Arbeit hingewiesen. Achebe hat nach der Schulausbildung am Umuahia Government College (einer Eliteanstalt), nach dem Studium in Ibadan, damals noch ein College der University of London, noch eine Ausbildung als Hörfunkjournalist bei der BBC (British Broadcasting Company) durchlaufen und ist mit diesem Geist des investigativen Journalismus zum Nigerian Broadcasting Service (NBS) zurückgekehrt.

Diesem Drang nach journalistischer Recherche ist Achebe auch in seiner Heimatstadt Ogidi nachgegangen, wo sein Vater Isaiah Achebe einer der ersten bekehrten Christen war. Im Archiv der christlichen Gemeinde fand Achebe die Dokumente über einen rebellischen Dorfältesten - die Figur Okonkwos - aber auch Dokumente über einen renitenten Priester der Erdgöttin, der in den 1930er Jahren eine Krise in Ogidi ausgelöst hat: der Faktenhintergrund für Achebes ambitioniertes Frühwerk "Arrow of God" (Der Pfeil Gottes). Dieses Wissen, daß die Romane Achebes durchaus eine reale und faktische Grundlage haben, verleiht ihnen eine weitere wichtige Dimension, die über die reine Gegenrede des "Writing Back" hinausreicht und den Erzählungen zusätzliches politisches Gewicht verleiht.

Dieser journalistische Hintergrund stellt auch eine wichtige Verbindung zu den weiteren Werken her. Der 1960 erschienene, aber vor "Things Fall Apart" geschriebene Roman "No Longer at Ease" verarbeitet Achebes persönliche Erfahrungen als junger Intellektueller, als Vertreter der neuen Führungselite des zur Unabhängigkeit strebenden Nigerias, der mit seiner Auslandserfahrung und -ausbildung, der mit den Überbleibseln alter Traditionen und deren kolonialen Perversionen zurechtkommen muß. Achebe stellt auch eine genealogische Verbindung her: Der Held von "No Longer at Ease", Obi Okonkwo, ist der Enkel des tragischen Helden in "Things Fall Apart".

"The Arrow of God" spielt in den 20er- und 30er Jahren, als die Kolonialverwaltung versucht, sich in der Fläche des Landes durchzusetzen. Der Priester Ezeulu ist wie Okonkwo ein Ibo-Traditionalist, ein Prinzipienreiter. Ihm obliegt die Beobachtung des Mondkalenders und die Bestimmung des Zeitpunktes für das Pflanzen und Ernten der Yam, dem Grundnahrungsmittel der Ibo. Im Konflikt mit der Kolonialverwaltung wird Ezeulu inhaftiert, und weil er in der Gefängniszelle die Mondphasen nicht weiter beobachten kann, weigert er sich, den Termin für das Ernten der alten und das Pflanzen der neuen Yam zu verkünden. Die Ernte verrottet im Boden, die Pflanzzeit für die neuen Yams verstreicht, und die Setzlinge verfaulen; der Zyklus von Aussaat und Ernte wird unterbrochen. Ezeulu setzt aus Prinzipientreue die Dorfgemeinschaft einer Hungersnot aus.

Auch hier, wie in "Things Fall Apart", hat Achebe eine klassische tragische Konfliktsituation geschaffen. Zusammen mit der Wahlkampfsatire "A Man of the People" hat Achebe mit seinen vier Romanen ein historisches Panorama seiner Heimatregion von der Ankunft der ersten Missionare bis zum ersten Versagen der den Nigerianern auferlegten Westminster-Demokratie nach der Unabhängigkeit gezeichnet.

Achebe als Kritiker

Von Anfang an hat Chinua Achebe seine literarischen Arbeiten mit theoretischen Essays begleitet, die die entscheidenden Fragestellungen zur Positionierung der "neuen" postkolonialen Literaturen thematisieren. Achebes Literatur- und Kulturtheorie zielt nicht auf das philosophisch abstrakte Niveau der großen Theoretiker wie Edward Said, Homi Bhaba, Gayatri Spivak. Achebes Essays reflektieren einen pragmatischen Geist, der aus den Zwängen und Notwendigkeiten der Schriftstellerei resultiert.

Vor allem aber hat es Chinua Achebe verstanden, mit seinen Thesen zur postkolonialen Literatur ein breites Publikum zu finden und entsprechend Aufmerksamkeit für die Anerkennung und die Auseinandersetzung mit postkolonialer Literatur zu erreichen. Mit "The Novelist as Teacher" argumentiert Achebe für eine afrikanische kulturelle Aufklärung. Nachdem über Generationen das Afrikabild von den Kolonialisten (einschließlich der imperialistischen Intellektuellen) geprägt worden ist, sieht Achebe den afrikanischen Schriftsteller in der Pflicht, seine Landsleute aus dieser "selbstverschuldeten Unmündigkeit" zu befreien und selber das Wort zu ergreifen, sich selber die Darstellung Afrikas wieder anzueignen. Der Essay "The African Writer and the English Language" spricht den Dauerbrenner der Auseinandersetzung unter Autoren und Kritikern an: In welchen Sprachen sollen, dürfen, müssen die Autoren schreiben?

Ngugi wa Thiongo aus Kenia ist ein militanter Vertreter des Schreibens in afrikanischen Sprachen - in seinem Fall Gikuyu. Die Sprache des Kolonialherrn, so Ngugi, ist die schärfste Waffe bei der Kolonisierung und Unterdrückung der Gehirne - daher "Decolonisation of the Mind". Achebe vertritt wiederum einen pragmatischen Standpunkt: Ohne die kolonialistische Aggression wäre das, was heute Nigeria ist, als eine Art Nationalstaat nie zustande gekommen. Nigeria wäre ohne die Unterstützung durch die englische Sprache als vereinheitlichendes Element nicht denkbar. Achebe nimmt auch unter Berufung auf den afroamerikanischen Autor James Baldwin für sich so viel intellektuelle Souveränität in Anspruch, daß er diese wirksame Waffe der Sprache sehr wohl für seine eigenen Zwecke einsetzen kann. Auch hat er die notwendige Souveränität, das britische Englisch in Grammatik, Vokabular, Phonetik seinen Bedürfnissen und den Notwendigkeiten des afrikanischen Umfeldes anzupassen.

Mit seinen frühen Romanen von "Things Fall Apart" (1958) bis zu "A Man of the People" (1968) hat sich Achebe als einer der Gründerväter der afrikanischen Literatur in europäischen Sprachen ausgewiesen. Mit "Things Fall Apart", "Arrow of God", "No Longer at Ease", "A Man of the People" und der Kurzgeschichtensammlung "Girls at War" hat er die Wendepunkte in der Geschichte seines Landes fiktional gestaltet: die Ankunft des weißen Mannes, die Ausbreitung des Kolonialsystems, das Auftreten und Versagen der neuen Eliten am Vorabend der Unabhängigkeit, das Scheitern des Modells der Westminster-Demokratie und die Herausforderung des nationalen Einheitsstaates im Biafrakrieg.

Ein zweiter Neuanfang: "Anthills of the Savannah"

Seit Anfang der 70er Jahre hat Achebe nur noch Essays, "Morning Yet on Creation Day" (1975) und eine politische Streitschrift, "The Trouble with Nigeria" (1983) veröffentlicht. So wurde nach beinahe 15jährigem Schweigen der neue Roman "Anthills of the Savannah" (1987) mit Spannung erwartet. Nachdem bereits eine sehr breit gefächerte kritische Literatur zu Achebes Werk existierte, richteten sich die Erwartungen der Kritiker vor allem in drei Richtungen: Ob Achebe, verglichen mit seinen früheren Romanen, der nigerianischen Frau eine gewichtigere Funktion zuweisen würde; ob sich seine Einschätzung der geschichtlichen Kräfte vom Kolonialismus zum Postkolonialismus geändert habe; und ob er im Vergleich zu seiner chronistischen Erzählhaltung der frühen Romane neue Erzählstrategien anwenden würde.

Einigkeit bestand von Anfang an darüber, daß "Anthills of the Savannah" wiederum eine literaturgeschichtliche Wende für die afrikanische Literatur darstellt. Achebe läßt die Kolonialzeit und die Zeit der Unabhängigkeit als Erzählgegenstand hinter sich und widmet sich der Frage, welchen Gebrauch Nigeria von seiner Unabhängigkeit gemacht hat und welche politische Kultur die Elite des Landes, aber auch die nigerianische Gesellschaft allgemein in freier und eigener Verantwortung für das Schicksal ihres Landes entwickeln konnten.

"Anthills of the Savannah" hat sowohl einen dokumentarischen Grundduktus wie auch eine allegorische Figurenkonstellation. Sam - der General, als Vertreter der Macht pur; Chris - der Informationsminister als Vertreter eines überzeugungsarmen Politpragmatismus; Ikem - der Chefredakteur und Dichter, kompromißloser Verfechter der Freiheit des Wortes und der Meinungen; dazu Beatrice, mit Ikem befreundet, mit Chris liiert und von Sam begehrt.

Dokumentarischen Charakter haben die atmosphärischen Schilderungen eines Nigerias während der üblichen Laufzeit einer Militärdiktatur. Diesen entwürdigenden Zyklus von gewählter Regierung, Putsch und vom Militär kontrollierter "Rückkehr zur Demokratie" läuft in Nigeria mit der Selbstverständlichkeit des Wechsels der Jahreszeiten ab.

Achebe gibt jeder der Hauptfiguren, außer dem Militärdiktator Sam, eine eigene Erzählerstimme. Im Rückblick auf ihre Biographien wird deutlich, daß das Trio Sam, Chris und Ikem seit ihrer gemeinsamen Schulzeit an der Lord Lugard Highschool (benannt nach dem einflußreichsten britischen Gouverneur Nigerias) miteinander befreundet ist, und daß sich jeder mit seiner Kolonialschulausbildung in seinem Fach einen Spitzenplatz in der postkolonialen nigerianischen Gesellschaft erobert hat.

Seit der Machtübernahme durch Sam, dem General, haben die drei alten Freunde sich mit ihren Talenten gegenseitig nützlich erwiesen. Wachsender politischer Druck von außen erzeugt wachsenden Druck innerhalb der Regierung, die Reihen fest zu schließen. Und gerade dieser Druck zur Harmonie führt zum Bruch der Männerfreundschaft, die mit dem Tod der drei Protagonisten endet. Anders als bei Dante ist es Beatrice, die überlebt.

Achebe kontrastiert Denken und Verhalten der modernen Politelite mit zwei Erzählungen aus der Oralliteratur: Als der Schöpfergott sieht, wie die Menschen seine Schöpfung verunstalten und nur mit Gewalt und Ausbeutung regieren, schickt er seine Tochter Idemili, die das Land durch den Strom Orimili (der Niger) bewässert. Die Tochter Idemili stellt sicher, daß "die Hüfte der nackten Gewalt mit dem Tuch der Menschlichkeit und Bescheidenheit bekleidet wird" - ein Gründungsmythos für Nigeria, in dem der Anspruch auf eine moralische Verankerung politischer Macht begründet wird.

Die zweite Geschichte ist die vom Leoparden und der Schildkröte, wo die Schildkröte, ehe es zum Kampf kommt, den Boden aufwühlt mit der Begründung, daß die Nachwelt wenigstens im Glauben leben sollte, es habe ein heftiger Kampf zwischen der schlauen Schildkröte und dem Machttier Leopard stattgefunden. Diese Geschichte hört Ikem zum ersten Mal von den Dorfältesten der rebellischen Provinz Abason. Und der Intellektuelle Ikem verwendet die Geschichte wieder bei einem explosiven Treffen mit den Studenten der Landesuniversität. Bemerkenswert ist hierbei, daß die Volksweisheit nicht den Charakter des "gesunkenen Kulturguts" aufweist, sondern umgekehrt aus der Schicht der Analphabeten in die höchsten Kreise der Intelligenzija aufsteigt.

Das Bild, das Achebe vom Polittheater der nigerianischen Eliten zeichnet, ist als naturgetreues Porträt gedacht. Das Volk kommt in diesen Überlegungen immer nur als Bittsteller oder gar Störfaktor vor, wie etwa die Abordnung aus der Dürreregion Abazon. Der Diktator selber hat sich nach moderaten Anfängen eines aufgeklärten Absolutisten schnell den Personenkultstil angeeignet, wie er ihn bei den Konferenzen der afrikanischen Staatsoberhäupter neidvoll beobachten konnte. Sein Kabinett hat Sam mit inkompetenten Sykophanten besetzt. Allein Chris als Informationsminister bringt gelegentlich noch einen kritischen Ton oder eine intellektuelle Note ein. Der Staatschef mokiert sich über die Hohlköpfigkeit seiner Ministerrunde und beklagt den Mangel an kompetenter Beratung. Und weil ihn die zivilen Politiker so jämmerlich im Stich lassen, müsse er sich kompetenten Rat bei seinen Kollegen vom Militär und vom Geheimdienst holen.

Daß Sam und Ikem sich von Schulfreunden zu Todfeinden wandeln, scheint unausweichlich. Sam läßt den aufsässigen Poeten von seinem Geheimdienst liquidieren. Umgekehrt fällt Sam dem Putsch zum Opfer, mit dem die Unteroffiziere den von Ikem angeheizten Volksaufruhr niederhalten wollen. Chris' Tod scheint vieldeutig zu sein wie sein Leben. Ihm gelingt die Flucht aus der Hauptstadt in seine Heimatprovinz. Als dort die Nachricht vom Sturz Sams eintrifft, wird Chris von einem betrunkenen Polizisten erschossen, der sich nicht von einer Vergewaltigung abhalten lassen wollte. Chris verliert sein Leben zwar im Einsatz für andere, für Menschenrechte, aber ihm haftet doch etwas Banales und Vergebliches an.

Übrig bleiben am Ende die Frauen mit ihren Kindern als Symbol von Lebenskraft und Kontinuität. Auch die Schlußszene, die Taufe von Ikems Tochter, wird wieder allegorisch aufgeladen. Es sind die Frauen Beatrice und Elewa, die ganz nach der Tradition der Namensgebungszeremonie verfahren. Nach der Tradition jedoch müßte der nächste männliche Verwandte dem Kind seinen Namen geben. Bei Achebe stoßen die Frauen selbstbewußt in eine Männerdomäne vor und nennen Ikems Tochter "Möge der Weg niemals enden".

In der Kritik sind insbesondere diese allegorischen Bedeutungszuweisungen als zu simplistisch bemängelt worden. Daß Achebe wiederum, wie schon bei "A Man of the People" in seinem Werk politische Entwicklungen vorweggenommen hat, wird honoriert; daß er den modernen nigerianischen Staat praktisch als Spielzeug einer kleinen Clique, als "Old Boys Netzwerk" darstellt, die sich wegen einer Frau in die Haare geraten, wurde ihm dagegen als politische Naivität angekreidet.

Der kulturpolitische Aktivist

1964 fand an der Universität Leeds eine epochemachende Konferenz zur Postkolonialen Literatur statt, die in die Gründung der "Association for Commonwealth Language and Literature Studies" (ACLALS) mündete. Als wissenschaftliche Organisation hat sich ACLALS die kritische Auseinandersetzung mit den neuen Literaturen aus den ehemaligen Kolonien auf die Fahnen geschrieben. ACLALS bot nicht nur ein Forum des kritischen Diskurses zwischen Autoren und Kritikern, sondern hat auch gleich die Rolle der Lobbyistin für einen grundlegenden Wandel der Lehrpläne für Literatur in Schulen und Universitäten übernommen. Achebe war hier an maßgeblicher Stelle beteiligt.

Noch prägnanter kam Achebes Rolle als Aktivist der neuen Literaturen bei der Makerere Conference (Uganda) 1962 zum Ausdruck. Hier haben sich die afrikanischen Autoren und einige Lektoren der multinationalen Verlage (die den afrikanischen Lehrbuchmarkt zu 95% kontrollierten) zusammengetan, um endlich auch die Entkolonialisierung des Publikationssektors in Angriff zu nehmen. Daraus wurde die "Heinemann African Writers Series" geboren - mit Chinua Achebe als Herausgeber und James Currey als Manager. Gestartet wurde die Reihe mit "Things Fall Apart" als HAW Nummer 1. Heinemann African Writers hat für die Schulen und Universitäten die Texte der neuen afrikanischen Autoren in preiswerten und überall verfügbaren Ausgaben bereitgestellt.

Angefangen hat HAW mit Taschenbuchlizenzausgaben, innerhalb weniger Jahre aber wurde HAW zur gesuchten Adresse für Erstausgaben afrikanischer Literatur. (HAW wurde vor einigen Jahren mit über 100 Titeln an ein elektronisches Verlagskonsortium verkauft). So ist Chinua Achebe zum Motor eines Kulturmanagementprojekts geworden, bei dem er als "Regional Director Radio Nigeria" seine Erfahrungen und Verbindungen in den Medien einbringen konnte.

Achebe hat seine Fähigkeiten auch in den Dienst der Sache Biafras gestellt. Der überwiegend von Ibos bewohnte Osten Nigerias, der sich von den Militärregierungen des islamischen Hausa/Fulani-Nordens um die Erträge des Ölreichtums betrogen fühlte, hat 1967 seine Unabhängigkeit erklärt und einen blutigen Bürgerkrieg ausgelöst. Zu dem humanistischen Selbstverständnis Biafras gehörte auch eine ambitionierte Kulturpolitik. Und wieder stand Chinua Achebe in der ersten Reihe der Kulturaktivisten. Zusammen mit dem im Biafrakrieg gefallenen Lyriker Christopher Okigbo stand Achebe an der Spitze des Literaturprojekts. Chukwuemeka Ike, Rektor der University of Nigeria/Nsukka, kümmerte sich um Schulen und Universitäten, Obiora Udechukwu gründete zusammen mit einer Reihe anderer, akademisch gebildeter aber volkstümlich orientierter Künstler, eine Kunstbewegung, die alte Ibo-Traditionen mit einem neuen politisch motivierten Expressionismus verband.

An der Spitze, als Motor nach innen und als Netzwerker nach außen in die internationale Kunstszene stand wiederum Chinua Achebe - als Künstler und homo politicus.

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