Online-Lernen als globale Vorwärtsstrategie

„Hätten wir in Darfur Bildung gehabt, dann wären wir heute nicht als Flüchtlinge im Tschad.“ Diese Aussage eines Mannes in einem Flüchtlingslager nahe Guereda an der Grenze zum Sudan im Jahr 2012 prägte sich tief in mir ein. Wer erinnert sich noch an den vom Regime in Khartoum unterstützten Krieg der arabischstämmigen Janjaweed-Milizen gegen die afrikanischen Bauern in den Bergen von Darfur, der 2003 begann? Bis heute leben Hundertausende von ihnen in Flüchtlingslagern im Sudan und im benachbarten Tschad. Der Konflikt ist mehrschichtig, er hat ethnische Ursachen, aber auch Wasser und knappe Ressourcen spielen eine Rolle. Der alte Mann hat Recht: Die knappste Ressource ist Bildung. 

Dies gilt für die ganze Sahel-Zone, die zu den instabilsten und ärmsten Regionen der Welt zählt – mit einer Reihe von Konflikten in Mali, Niger, Nigeria, Zentralafrikanische Republik, Sudan, Eritrea bis Somalia. Armut heißt nicht nur, wenig Geld, sondern vor allem, eine geringe Lebenserwartung und wenig Schulbildung zu haben. Wenig Bildung bedeutet hohes Konfliktpotenzial. Arme Menschen haben weder Perspektiven noch Hoffnung. Die Verzweiflung treibt junge Leute in die Hände von Extremisten, religiösen Fundamentalisten und Milizen. Aufstand und Krieg bedeuten auch: Die Abwärtsspirale der Bildung geht noch weiter nach unten. Boko Haram hat sich sogar als politisches Programm („Westliche Bildung ist schlecht“) den Krieg gegen die Bildung der Frauen auf die Fahnen geschrieben. Dies trifft auch auf die Taliban und den IS zu. Mangelnde Bildung ist nicht nur eine Wurzel von Krieg und Vertreibung. Es gibt auch regelrecht einen Krieg gegen Bildung. Schulen werden zerstört – und damit die Zukunft der Kinder. Für Erwachsene schließt sich die Tür für ein Universitätsstudium, sobald sie Flüchtlinge sind. Weniger als ein Prozent der Flüchtlinge haben Zugang zu einer Universität. 

Verarmung und mangelnde Bildung sind aber auch Grundursachen von verkürzten und simplen Reaktionen von Menschen in Europa und den USA, einschließlich Deutschlands. Sie fühlen sich als Verlierer und sind frustriert. Sie hören auf populistische Parolen der „Trumps“ unserer Tage und drücken in Wahlen ihren Protest aus. Wo auch immer ein Diktator die Macht ergreift, wird freies, kritisches Denken unterdrückt. Intellektuelle stehen unter Verdacht und werden verfolgt – wie in der Türkei. Bildung spielt eine zentrale Rolle für Demokratie, Freiheit, Frieden und integrale menschliche Entwicklung. 

Mit Blick auf Flüchtlinge, Arme und Marginalisierte entstand im Jahr 2010 – in Zusammenarbeit mit dem internationalen Jesuitenflüchtlingsdienst (JRS) als Partner vor Ort – ein Pilotprojekt von amerikanischen Jesuiten-Universitäten. Es nannte sich „Jesuit Commons Higher Education at the Margins“ und machte online ein Universitätsdiplom in Liberal Arts (Humanitas) für Flüchtlinge in den Lagern Kakuma in Nordkenia, Dzaleka in Malawi und im syrischen Aleppo zugänglich. Kriegsbedingt musste das Lernzentrum in Aleppo schließen und arbeitet nun in Jordanien weiter. In der Zwischenzeit gibt es 19 solcher Lernzentren in den genannten Ländern, weitere in Afghanistan, Sri Lanka, Tschad, Myanmar, in den Philippinen, im Nordirak und sogar in New York. Seit 2010 haben über 5000 Studenten einen Sprachkurs und berufliche Zertifikatskurse absolviert. Über 500 von ihnen haben sich für den Diplomkurs eingeschrieben, von ihnen haben 148 bereits graduiert. Mehr als ein Viertel studieren an anderen Universitäten weiter, manche haben ein Geschäft aufgemacht, andere sind Führungskräfte geworden. 

Online-Lernen, der globale Zugang zu digitalem Wissen, ist ein tiefer Umbruch – wie es seinerzeit die Erfindung des Buchdrucks gewesen ist. Das Lernen verändert sich radikal. Unsere Studenten in den Flüchtlingslagern haben, wie jeder reguläre Student, Zugang zur Bibliothek der US-amerikanischen Georgetown- und Regis- University. Mit der Zeit werden weitere Universitäten dazu kommen und einen Abschluss anbieten. Es ist kein reines Online-Lernen, sondern ein gemischtes Modell – und es steht in der langen Tradition des Jesuitenordens und der Ignatianischen Pädagogik. Studenten werden von Professoren begleitet und in ihren schriftlichen Beiträgen bewertet. 

Seit September 2016 nennt sich diese Initiative „Jesuit Worldwide Learning – Higher Education at the Margins“ (JWL) und hat ihren Hauptsitz in Genf. Sie wird als gemeinsames weltweites Werk von Jesuiten in der Schweiz, Deutschland und Österreich mitgetragen. Im Dezember begannen Flüchtlingsstudenten an vier Orten, davon zwei Flüchtlingslager, im Nordirak mit dem Englisch-Sprachkurs, um später ins akademische Studium einzusteigen. JWL nützt das Internet als Mittel, um „Menschen für andere“ zu formen. Anstatt die begabtesten Studenten aus einer Gruppe herauszunehmen und mit einem Stipendium an eine ferne Universität zu senden, bringt JWL die Universität ins Flüchtlingslager und zu marginalisierten Gemeinschaften. JWL fördert die lokale Gemeinschaft von Lernenden. Gleichzeitig formt es eine globale Gemeinschaft von Lernenden im virtuellen Klassenzimmer. Es studieren junge Menschen aus den Bergen Afghanistans zusammen mit Somalis, Kongolesen und Burmesen. Das weltweite Klassenzimmer ist zentral für JWL. 

Bald werden junge Leute aus Denver und Omaha gemeinsam mit den Flüchtlingen in den genannten Ländern studieren und von ihrer jeweiligen kulturellen und religiösen Perspektive her über eine Problemstellung nachdenken. Eigenständiges, kritisches Denken hat in einigen Kulturen keine Tradition. Gemeinsames weltweites Lernen ist eine Vorwärtsstrategie, um die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit anzugehen. Rückwärtsstrategien von Fundamentalisten, Populisten, Diktatoren und Rebellen finden heutzutage Anklang oder werden sogar mit Gewalt durchgesetzt. Wir haben keine andere Wahl, als auf die immer globaler werdende Welt mit einer globalen Strategie zu antworten.

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