Flüchtlingskrise, Xenophobie und Biologie

Seit dem Sommer 2015 sind wir Zeugen einer gewaltigen Flüchtlingsbewegung aus den Krisengebieten Asiens und Afrikas nach Europa. Nach einer Welle von spontaner Anteilnahme und gastlicher Hilfsbereitschaft macht sich inzwischen eine gegenteilige Stimmung in der Bevölkerung Europas breit. Sie reicht von Ängsten vor dem Fremden, Misstrauen gegen den Islam und seine Absichten, Befürchtungen für den eigenen Wohlstand, den Wettbewerb um knappe Güter wie Wohnungen bis zu gewalttätigen Angriffen.

Diese Phänomene sind keineswegs auf ein Land beschränkt. Sie finden sich in allen Ländern Europas, selbst in solchen, die traditionell als liberal und tolerant betrachtet werden – wie England oder Skandinavien. Auch wenn es sich in den Extremen nur um eine kleine Minderheit handelt, erscheinen uns die Vorbehalte gegen Flüchtlinge als Fremde in der Mehrheit der verschiedenen Bevölkerungen zu bestehen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei diesen Vorbehalten um eine allgemein menschliche Eigenschaft handelt. Dieser Befund lässt vermuten, es stecke etwas in unserer Biologie. Wir sagen: Das liegt mir im Blut. Wissenschaftlich gesprochen: Es ist genetisch. Was könnte das sein?

Im Lichte der Evolution werden nur Eigenschaften konserviert und vererbt, die den Lebewesen einen Überlebensvorteil in ihrem jeweiligen Biotop verschaffen. Zu den ältesten solcher Eigenschaften gehört es, ein Territorium zu sichern, um Nahrung zu finden, um sich und die Nachkommen zu schützen. Strukturen, die ein solches Verhalten ermöglichen, finden wir im gesamten Bereich des Lebens, sowohl bei Tieren als auch bei Pflanzen.

Im Tierreich sind sie deutlich erkennbar schon bei den Wirbellosen, z. B. den Insekten. Bei den Wirbeltieren ist territoriales Verhalten bis ins Detail studiert. Fische verteidigen ihr Revier sehr aktiv gegen Artgenossen, verlieren aber ihre Aggressivität an der Außengrenze. Auch in allen anderen Stämmen des Tierreichs wie bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren finden wir eine kaum fassbare Fülle von territorialen Verhaltensmustern. Dazu gehören nicht nur Abwehrangriffe, sondern auch akustische, visuelle, olfaktorische Signale und Vortäuschungen.

Der Reichtum an Erfindungen der Natur, um Territorien zu sichern, lehrt uns, wie wichtig dieses Verhalten für das Überleben ihrer Träger ist. Die Genetik weiß, dass erfolgreiche Lösungen in der Natur genetisch fixiert und über gewaltige Zeiträume von Hunderten von Millionen Jahren konserviert werden. Revierverhalten gehört dazu und ist auch als Erbe der Evolution im Homo sapiens wirksam.

Wir erleben das täglich und oft in ganz trivialen Situationen: Man denke an das Eisenbahnabteil, das man ungern mit einem zweiten teilt, an das Handtuch am Strand oder auf dem Liegestuhl im Schwimmbad. Wir markieren unsere Territorien nicht mit Duftmarken, sondern auf unsere Art mit „Besetzt“- Symbolen. Unser Verhalten den Flüchtlingen gegenüber folgt dem gleichen Schema von „Wir und die anderen“. Im Russischen gibt es ein nettes Beispiel. Man sagt: „Ich und mein Bruder gegen den Rest der Familie, unsere Familie gegen die anderen im Dorf, unser Dorf gegen das Nachbardorf“ usw. – wie die Puppen in der Puppe.

Dieses Beispiel zeigt auch, wie willkürlich unsere Projektion von uns und den anderen, den Fremden ist. Offensichtlich können wir die Vorbehalte gegen das Fremde sehr flexibel behandeln, ja sogar den Verhältnissen entsprechend modifizieren, vielleicht sogar aufgeben. Zwei Vektoren wirken hier in uns auf gegensätzliche Weise: Die Erbschaft unserer biologischen Evolution, das Territorialverhalten, trifft auf Errungenschaften der sozio-kulturellen Evolution, das Samaritertum.

Eine solche Situation sehen wir in den Flüchtlingen. Sie haben ihr angestammtes Territorium verloren – mit allen Werten, mit allen Beziehungsgeflechten, mit Besitz und Tätigkeit. Es ist ihnen das geschehen, was die Fremdenhasser für sich selbst befürchten: die Möglichkeit eines Verlustes ihres Territoriums, materiell und mental.

Im Fremdenhass, von Soziologen auch Xenophobie genannt, finden wir alle Aspekte des Revierverhaltens wieder. Es sind vor allem Ängste, die durch die vermutete Bedrohung der eigenen kleinen oder großen Welt entstehen. Die Deutung von Fremdenfeindlichkeit als ein archetypisches Revierverhalten, das im Laufe der Evolution erworben wurde und sich als nützlich erwies, darf nicht als Rechtfertigung für ein aggressives Verhalten Schutzbedürftigen gegenüber verstanden werden. Es gibt viele Eigenschaften, die wir als evolutionäres Erbe besitzen, aber durch Erziehung, durch Lernen, durch Regeln, durch Vorbilder und durch Religionen beherrschen.

Das Evangelium ist ein Paradebeispiel für die Überwindung archaischen Verhaltens im Menschen. Das Gebot der Nächstenliebe und die Seligpreisungen der Bergpredigt, Gewaltlosigkeit und Verzicht auf Rache, die Aufmerksamkeit für die Benachteiligten der Gesellschaft, die chronisch Kranken, die verachteten Zöllner und die Ausländer wie die Samariter – das war das Gegenteil vom Zeitgeist. Es war auch der Versuch, das tierische Erbe im menschlichen Verhalten zu überwinden. Gewiss hatten Platon, die Gnosis und die hellenistische Zivilisation zurzeit Christi schon einige dieser Gedanken vorausgedacht, aber das Evangelium war ein revolutionäres Konzept, das offensichtlich die Menschen ansprach, nicht zuletzt weil es auch das metaphysische Element des Gottesglaubens mit einbezog.

Zweifellos sind philanthropische Gedanken auch in vielen anderen Religionen formuliert worden und zu Geboten geworden. Zugleich sehen wir aber auch in vielen Religionen den alten Anspruch der Exklusivität. Vollwertige Menschen sind dann nur solche, die meinen Glauben an Allah, Jahwe oder Shiva teilen. Konfessionelle Unterschiede wie zwischen Schia und Sunna, als Beispiel aus unserer Zeit, können zu extrem feindlichen, ja tödlichen Auseinandersetzungen benutzt werden, um politische Ziele zu erreichen.

Genauso wie die xenophoben Ängste, die Mitleidlosigkeit und Feindlichkeit gegenüber den Hilfsbedürftigen uns abstoßen, sind wir auch bewegt durch die gegenteiligen Haltungen, das außerordentliche Engagement ungezählter ehrenamtlicher Helfer, die eine Willkommenskultur leben. Ein Rückblick in die Geschichte Deutschlands zeigt eine bewährte Fähigkeit, mit Flüchtlingsproblemen umzugehen und zum Segen des Landes die Ankömmlinge zu integrieren.

Auch die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte von Menschen auf der Wanderschaft. Europa wurde in drei Wellen von Migranten besiedelt: Die Neandertaler hatten die Eiszeiten überlebt, als der Homo sapiens aus Afrika kommend Europa als neue Heimat entdeckte. Chromosomenanalysen lassen vermuten, dass unsere Vorfahren schwarz waren. Die zweite große Einwanderungswelle brachte den Ackerbau nach Europa. Sie kam aus den gleichen Gebieten, aus denen heute die meisten Flüchtlinge stammen, dem Vorderen Orient, Syrien und Türkei.

Als dritte große Einwanderungswelle, die dann zum wesentlichen Bestandteil der heutigen europäischen Völker wurde, kamen Reitervölker aus dem Osten zu uns, die inUmschau 269 doeuropäische Sprachen hatten wie keltisch, germanisch, slawisch oder romanisch. Wie genetische Untersuchungen an Europäern gezeigt haben, sind wir Träger von Chromosomen aus sehr verschiedenen Populationen. Reinrassige Menschen gibt es nicht! Vielleicht hilft es, Rassenhochmut, Superioritätsdünkel und absurde Parolen, wie die vom reinen Türkenblut, unter anderem als Irrtümer zu entlarven.

In der globalisierten Welt von heute ist es Konsens, die Menschenrechts-Charta der UN durch alle Mitglieder zu respektieren. Auch eine Konvention, die Status und Rechte von Flüchtlingen, also von Fremden, regelt, wird von vielen Staaten anerkannt, wenn auch nur halbherzig oder gar nicht befolgt. In dieser neuen Fremdenfeindlichkeit kommt der alte Adam mit seinem Revierdenken wieder zum Vorschein1.

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