Devotio moderna digitalis?Eine historische Skizze zu katholischer Intellektualität und Medialität

Der Schweizer Kapuziner Rudolf Gasser zentrierte im Jahre 1686 in der programmatischen Einführung zu seinem kämpferischen Roman „Außforderung“ den Begriff des intellectus1. Das Werk selbst richtete sich gegen „Atheisten“ und „Machiavellisten“, argumentierte aber auch gegen „falsch-politische Welt-Kinder“ und nicht zuletzt gegen den Missbrauch des von ihm selbst genutzten Mediums, nämlich der „gefährliche[n] Romane“. Gasser übersetzt das lateinische Wort intellectus mit „Verstand“ und „Beschawung“ und zielt damit auf die mentale Kompetenz des „Erwägens und Betrachtens“. Offenbar gedenkt er die kritisch sichtende, vergleichende und erkennende Verstandestätigkeit seines Lesers anzusprechen und zu schulen. Hierbei bezieht er sich implizit auf die ignatianische Meditation, die sich wiederum an den drei Seelenkräften orientiert, die Raimundus Lullus in seinem „Liber contemplationis“ mit memoria, intellectus und voluntas schon im 13. Jahrhundert vorgegeben hatte.

Vom Ein-Sehen zur Erkenntnis

In diesem Sinne postuliert der Autor des 17. Jahrhunderts ein mehrfaches Lesen (s)eines Romans, denn durch die wiederholte Übung am Wortlaut steigere der Leser das Verstehen im graduellen Sinne von Wahrnehmen und Erkennen. Die Verstandestätigkeit optimiert sich in ihrer Auffassungsgabe an den vorab mit dem Seh-Sinn erfahrenen Vor-Bildern, die dann das innere Sehen, im Sinne von „Ein-Sehen“ befördern. Diese Fähigkeit zielt eigentlich aber auf den intellectus fidei: Es gilt, die eigene wie auch jede andere Glaubensüberzeugung „mit offenen Augen“ zu durchdringen und gedanklich aufzubereiten. Ins Zentrum rückt damit das Vermögen, mit einer ausgeprägten Wortkunst eine per se abstrakte, vor allem aber auch eine höherstehende, für die Mehrheit der Menschen nicht begreifbare Materie so zu verbalisieren, dass sie „Erkenntnis“ für alle wird.
Das lateinische Bezugswort intellectus bzw. intellegere blickt demnach schon zu Gassers Zeiten auf eine längere Begriffsgeschichte zurück, die in vielen semantischen Schattierungen des entsprechenden Wortgebrauchs mitschwingt. Diese aber entsprechen kaum der stark verengten modernen Bedeutung im Sinne einer kritischen Individualität oder gar einer sozialen Klasse. In der Tradition der antiken Rhetorik etwa ist die intellectio die Phase des prüfenden Erfassens des Redegegenstandes, die noch vor den klassischen Produktionsstadien (inventio, dispositio und elocutio) zu erfolgen hat. Es gilt, die jeweilige causa minutiös in ihrer Spezifik und Konsistenz zu klären, die detaillierten Umstände zu bestimmen und diese dann probeweise in einen der Redeabsicht dienlichen Zusammenhang zu bringen.
Es ist auch das 17. Jahrhundert, das „Intellektualität“ als eine besondere Form des „Scharfsinns“ definiert: Balthasar Gracián y Morales SJ (1601–1658) lieferte 1642 mit einem Traktat über die Kunst der argutia eine ausführliche Instruktion, wie man unerkannte Sinnbezüge oder verblüffende Analogien, etwa zwischen Naturphänomenen, Geschichtsprozessen und Glaubensfragen herstellen könne. Die Metapher im arguten Sinne fordert zu großen Gedankensprüngen, ja zu unerwarteten Sinn-Kontraktionen heraus. Gemäß der Theorie des Jesuiten Emanuele Tesauro (1592–1675), die er 1654 in seinem „Il cannocchiale aristotelico“ ausführt, zeigt sich im concetto das göttliche ingenium des Dichters, mit einer kühnen, das gewöhnliche Denken durchaus befremdenden Metapher, ja sogar mit kunstreich harmonisierten Widersprüchen das scheinbar Unzusammenhängende doch noch in einer Weise zusammenzubringen, dass sich Erstaunliches, Neues, vor allem aber Tröstliches ergibt.
Hierin besteht eine spezifische intellektuelle Leistung: Erprobt wird, was geschieht, wenn man völlig entlegene Dinge einmal „unverbindlich“ koppelt und die resultierenden Gedanken dann zur Erweiterung oder Klärung des bis dato Gewussten einsetzt. Die Kunst der Kombinatorik, das manifeste Vermögen, Erkenntnis durch neue, „originelle“ Zusammenfügung zu generieren, ist weit vor dem „Sturm und Drang“ ein erstes Zeichen für dichterische Freiheit. Der Dichter verfügt jetzt über eine gottgegebene Einbildungskraft, die vis imaginativa, die ihm als intellektuelle Fähigkeit ein besonderes Erkennen ermöglicht.

Das Theater als Transformator von Einsichten

Ignatius von Loyola (1491–1556) spricht in diesem Zusammenhang in seinen „Geistlichen Übungen“ (Exerzitien) von einem „inneren Schauplatz“, den der Autor mit Hilfe der Wortkunst suggestiv erzeugen muss, und daher ist es völlig naheliegend, das Prinzip auch auf den „äußeren Schauplatz“ anzuwenden, so dass nun ein weiteres Medium ins Spiel kommt: Neben den Roman tritt das Theater als wirkungsmächtiger Transformator von „Einsichten“. Im performativen Rahmen treten Maskierung, verwirrende Wechsel der Identität einer Person oder inszenatorische Techniken hinzu, wie sie allein der Illusionskunst der synästhetischen Vorführung zu eigen sind.
Sein und Schein kann so aufgrund einer Textvorlage nach dem Willen des Regisseurs zwischen möglichen Bedeutungen oszillieren und das beunruhigende Moment der ständigen Erkenntnisveränderung bzw. des resultierenden Erkenntniszuwachses aufgreifen. Die authentische Bühnenpraxis des Jesuitentheaters im 17. Jahrhundert macht das eindrucksvoll deutlich und liefert nicht zuletzt bereits eine Intellektuellenkritik der besonderen Art: Es ist der hochmütige Gelehrte „Cenodoxus“, den Jakob Bidermann SJ (1578–1639) im Jahre 1602 in seinem gleichnamigen Stück mit drastischen Mitteln als scheiternde Geistesexistenz vorführt. Seine Comico-tragoedia (deutsch 1635) wendet sich kritisch gegen den protestantischen Humanismus in seiner stoischen Ausprägung und zeigt mit einem großen allegorischen Apparat, wie das unbelehrbare Subjekt zum grausamen Untergang verurteilt ist.
Historisch ist im 17. Jahrhundert ein Prozess der Emanzipation zu beobachten, der auch dem modernen Typus des Intellektuellen den Weg bereiten sollte: Es ist die rhetorisch hochgerüstete Sprachkunst als Medium und Instrumentarium, schließlich aber als Forum neuzeitlicher Intellektualität, die sich hier als ein eigenständiges System neben der Theologie entwickelt. Im Mittelalter noch nicht einmal als „Magd“ der Königsdisziplin zugelassen, emanzipiert sich die poetische Zunft jetzt von der reinen Illustration theologischer Prinzipien über deren kritische Reflexion zunehmend zur aktiven Intervention in kirchenpolitischen Fragen.
Verdeutlichend ließe sich sagen: Anstelle von dogmatischen Vorgaben oder einer abstrakten, rein präskriptiven Kausalität wird Glauben jetzt anschaulich und damit erlebbar. Mit dem großen Arsenal der sprachlichen Formen lässt sich die heilsgeschichtliche Position des Menschen differenzieren und auch praktisch vermitteln: Das sprachliche Bild, aber auch Ton und Klang bzw. Metrik und Rhythmus haben hier einen entscheidenden Anteil. Neben der Architektur, neben dem Bild und Ritual avanciert damit die Literatur im Sinne des inspirativ gegebenen wie konstruktiv organisierten Sprachkunstwerks zum Medium für Metaphysik, Moraltheologie oder seelsorgerische Unterweisung, und damit für die Deutung, Neuordnung und Neustabilisierung der Welt.
Jetzt können natürlich jederzeit auch kirchenexterne Protagonisten auf den Plan treten, die sich durch besonderen Wissenserwerb bzw. dessen Umsetzung auszeichnen, so dass eine Statuskonkurrenz erwächst zwischen dem ordinierten Klerus und dem Laien. Der Laie kann nun mit seinen Möglichkeiten auch in einen unmittelbaren Kontakt mit Gott treten (Inspiration) bzw. den Heiligen Geist empfangen und diesen im Sinne des Pfingstwunders selbst im Sprachmedium verbreiten. Nach dem 18. Jahrhundert ist es nicht mehr das Ordensmitglied oder der Universitätsangehörige, der dem Priester und Theologen zur Seite tritt, sondern der freie Schriftsteller – bis in unsere Gegenwart.

Naivität – Weisheit – Gotteserkenntnis

Neben den geweihten Priestern sind es aber auch die Schriftgelehrten als exegetische Instanz, zu denen sich der Laie in ein Spannungsverhältnis begibt. Jesus selbst weist Andreas Keller 760 auf die Ambivalenz der Schriftgelehrten hin: „Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun, denn sie reden nur, tun selbst aber nicht“ (Mt 23,3). Hier öffnet sich eine Diskrepanz zwischen „Schriftgelehrsamkeit“ als einer exegetischen und dogmatischen, also „intellektuellen“ Leistung, und einer „naiven“ bzw. „praktischen“ Gläubigkeit. Schriftgelehrte können auch irren, dagegen kann die Naivität als Erkenntnisquelle eine allzu sperrige Theoriekonstruktion überwinden.
Das sollte sich dann im Topos der besonderen heilserkennenden „Einfalt“, der sancta simplicitas, verfestigen, die eben nicht nur minderwertig ist: Sie ihrerseits erlebt und betrachtet unmittelbar und unbestechlich, wie etwa der junge „Simplizissimus“ bei Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676) zeigt, der völlig frei ist von Künstelei, Verstellung oder hinderlichem intellektuellen Ballast. Damit gerät auch so etwas wie die „Laienkompetenz“ als „Korrektiv“ oder „Komplement“ der professionellen Deformation in den Blick. Der „Naive“ kann selbst zur Weisheit und damit zur Gotteserkenntnis (visio Dei) finden.
Der Laie hat somit einen besonderen Status, auch und gerade durch sein Vermögen als Unwissender, als „idiota“: als noch zu Belehrender. Das eingestandene Nicht- Wissen und die Grenzen des Erkennens als Qualität von Intellektualität führen bei ihm nämlich nicht etwa zu Resignation und Verzweiflung, sondern zu einer besonderen Aktivität, damit auch produktiv umzugehen. Nikolaus von Kues (1401–1464) publiziert im Jahre 1438 einen Dialog des „idiota de sapientia“. Der Laie äußert sich also über seine besondere Weisheit. 1440 setzt Kues sogar die „docta ignorantia“, die „gelehrte Unwissenheit“, als Titel über seine Einführung in die spekulative Kosmologie. Es geht hier generalisierend um die dem Menschen, trotz seiner Beschränktheit, mögliche Erkenntnis durch die Gnade Gottes. Ein zentraler operativer Begriff ist hier die „Konjektur“, das heißt die „Mutmaßung“ als eine dennoch mögliche Annäherung an das prinzipiell nicht zu Begreifende.
Das Phänomen des kritisch und selbständig denkenden Menschen bringt im Weiteren durchaus eigene Typen ins Spiel: den Gelehrten, den Weisen, den Praeceptor. Vor allem aber den homo litteratus, den homme de lettres. Diese Termini verweisen auf ein breites Geschichtswissen, auf fundierte Textstudien und eine wirksame akademische Lehre. Durchaus aber zeigen sich auch hier schon potenzielle Distanzbewegungen zur Autorität, das heißt zur Kirche als Institution, was mit Bezeichnungen wie Prophet, Visionär, Schwärmer, Ekstatiker oder gar Freigeist in einen Zusammenhang zu bringen wäre.
Die kirchenexterne Erfahrungsinstanz hat natürlich immer das Problem der Verteidigung ihres Einzelerlebnisses gegenüber der Lehrmeinung. In der mittelalterlichen Scholastik war das Weltwissen fixiert im System der Logik und der lernbaren Schlussfolgerungen. Erkenntnis erfolgte zwar über die Dialogform, über die Dialektik, aber die Antworten waren stets vorgegeben und zu memorieren. Gegen diese begriffsbasierte Intellektualität stand immer wieder die unmittelbare Kommunikation mit dem Schöpfer und der Schöpfung: Hier galt es, die wahrnehmenden Sonderfähigkeiten einzelner Individuen im Sinne von Mystik, Vision und Kontemplation zu betonen und zu nutzen.
Schon im 15. Jahrhundert organisierten sich die Laien erstmalig selbst, um intellektuelle Glaubens- und Erkenntniserfahrungen zu machen und in eine unmittelbare Beziehung zu Gott zu treten. Unter dem Stichwort devotio moderna formieren sich Bruderschaften, die mit neuen Techniken der Selbstbeobachtung, durch Schriftlektüre und Diskussion eigene und durchaus kirchenferne Modelle der Wirklichkeitsbewältigung entwickeln.

Von der Affektenlehre zu Karl Muths Dialogforum „Hochland“

Dies sind nur einige wenige kursorische Beobachtungen zur Intellektualität in der Vormoderne. Die lediglich in Umrissen erkennbare historische Linie galt es aber vor allem deshalb zu ziehen, weil in ihrer Verlängerung nun zu fragen wäre, wie Wortund Bildkunst, prüfende Einsicht und berufenes Agieren als Verbreitungsinstanz sich in der jüngeren Situation von Medialität darstellen. Im Laufe des anskizzierten Prozesses entwickelt sich ja nun auch „der Intellektuelle“ als moderner Typus oder „die Intellektuellen“ als moderne Personengruppe, die Wörterbücher vor 1800 kennen weder den Begriff noch den damit für uns üblicherweise verbundenen Inhalt. Es handelt sich wohl um eine zeitbedingte Wortprägung im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre um 1890, mit der auch der klare, wenngleich auch sehr enge Impetus des „J’accuse“ ins Spiel kommt: Es ist die Anklage, die kritische Opposition und der moralische Anspruch, irdische Gerechtigkeit aufgrund von subjektiv gesammeltem faktischen Wissen und argumentativ erwiesener Wahrheit herzustellen. Damit ist auch der Konnex zum Zeitalter der Aufklärung offenkundig: mutig gegen Dogma und Bevormundung, mutig gegen Autoritäten, selbstlos für Denk- und Redefreiheit, erbarmungslos für Klarheit statt Dunkelheit.
Obwohl es die katholische Seite war, die mit den medienstarken Jesuiten und deren wegweisenden Konzepten der Rezeptionsästhetik, der Affektenlehre und der geförderten individuellen Einbildungskraft (Phantasie und Psyche) die wesentlichen Akzente für die Entwicklung moderner Literatur und Intellektualität gesetzt hatte, sollte die katholische Literatur nach 1750 bald in eine Krise geraten. Weder die katholische Aufklärung in Wien mit ihren geistreichen Satiren, noch die katholische Romantik mit Novalis, Clemens Brentano oder Joseph Freiherr von Eichendorff vermochten hier gegenzusteuern. Im 19. Jahrhundert scheint dann die katholische Literatur und damit im Wortsinne auch das Gelehrtenwesen den Wettbewerb mit dem protestantischen Konkurrenten zu verlieren. Im Zuge eines kämpferischen Nationalismus und seiner geistigen Fundierung durch eine endlich gegenüber der Romania erreichte intellektuelle Gleichrangigkeit schien die deutsche Klassik wie auch sogleich die deutsche Nationalliteratur allein aus den lutherischen Pfarrhäusern und damit gänzlich ohne katholische Geisteskraft zu erwachsen.
Hier aber wehrte sich wiederum ein Laie und suchte mit machtvollem Appell, den katholischen Glauben auch wieder über intellektuelle, das heißt literarische Wege einsehbar zu machen: Karl Muth (1867–1944) forderte programmatisch die „Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland“, so der Titel seiner bereits resümierenden Publikation aus dem Jahre 1927. Mit entsprechenden literaturtheoretischen Schriften platzierte Muth zwischen 1893 und 1898 eine energische Position gegen den Inferioritätsvorwurf: Die Leistungen der katholischen Intellektuellen, insbesondere die katholische Belletristik, seien zwar völlig abgesunken, wirkungslos und unselbständig, aber das sei noch lange kein Grund zur Resignation.
Muth ermuntert alle literarisch tätigen Personen, hier tatkräftig Abhilfe zu schaffen. Und sein Medium hierfür, also für Appell, Diskussion und Produktion, ist nun nicht mehr das Theater, sondern die Zeitschrift: 1903 gründet er die Monatsschrift „Hochland“, die bald zum überregionalen Gesprächsort für katholische Intellektuelle jeglicher Provenienz und Couleur werden sollte – ein engagierter Versuch, die katholischen Schriftsteller wieder mit wirkungsvollen Produkten am öffentlichen Leben zu beteiligen. Sie sollten ihre jeweils spezifischen katholischen Positionen artikulieren, um damit nicht nur die ästhetischen, sondern in Folge auch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen mitbestimmen zu können.
Inwieweit das von Karl Muth aufgebaute Dialogforum Wirkung auf die Entwicklung einer ausdifferenzierten katholischen Intellektualität im 20. Jahrhundert geführt hat, bliebe zu diskutieren2. Sicher ist, dass katholische Literatur im weiteren Sinne bis in unsere Gegenwart nie eine aussterbende Randerscheinung war, sondern auf unterschiedliche Weise immer ein substantielles Komplement3.

Das digitale Netz:
Sinnlichkeit, Abstraktion, theatralische Visualität, diskursive Intellektualität

Vor diesem lediglich skizzierten historischen Hintergrund hieße „intellektuell“ also nicht einfach nur kritisch „gegen etwas sein“ und anzuklagen. Der Intellektuelle ist mit Blick auf die einzelnen Stationen seiner historischen Entwicklung nicht nur eine analytische, auseinanderlegende oder gar zersetzende Instanz, sondern erfüllt immer auch moderative und konstruktive Funktionen. Worüber aber zu sprechen wäre, bleibt weiterhin die Medienfrage: Was in den Zeiten der Mission der Brief, was in der Epoche der Konfessionalisierung der Buchdruck (vom Flugblatt bis zum Roman), was für die Jesuiten im 17. das Theater und schließlich für Karl Muth im 19. Jahrhundert die Zeitschrift, das ist für das 21. Jahrhundert zweifellos das World-Wide-Web.
Das digitale Netz aber hat andere Qualitäten, die es zu befragen gilt. Die elektronische Verbindung von allen mit allen birgt genuin neue Qualitäten für die Kommunikation, für Botschaft und Mission. Zu prüfen bliebe, ob sich dies allein auf die quantitative Steigerung oder kumulative Verbindung aller bislang errungenen Medienformen erstreckt oder ob etwa qualitative Neuerungen zu bestimmen sind4. Im Netz verbindet sich Sinnlichkeit und Abstraktion, Bild und Wort, theatralische Visualität und diskursive Intellektualität. Auch die offenen Grenzen zwischen den Ständen (Laien und Gelehrte) und der Regionen (Globalisierung) sind unumkehrbare Folgen und Begleitumstände des Mediums. Vor diesem Hintergrund erhält der seit der Spätantike immer vorhandene Pluralismus neue Artikulationsformen und verstärkt damit seine innerkatholische „Pluralisierungsdynamik“ (Hubert Wolf), da die Kirche „in ihrer Geschichte nie ein monolithischer Block war“, sondern aus „unterschiedliche[n] Katholizismen“ bestand, die „miteinander um den rechten Weg“5 rangen.
Die moderne katholische Kirche sieht sich hier als Bindungs- und Moderationsinstanz. Karl Rahner SJ erkennt sie schon mit dem Zweiten Vatikanum auf dem Wege der Transformation zu einer „globalen“ Instanz, zur „Weltkirche“, die dabei vor allem die Eigenständigkeit der Ortskirchen verstärkt. Anstelle eines „hierarchischjuridischen Kirchenbildes“ steht nun eine lebendige flexible „communio-Struktur“ mit kollegialen Elementen, auch in der kirchlichen Leitungsstruktur6. Durchaus aber steht diese Orientierung von Anfang an in einer unlösbaren Verbindung mit den modernen Medienangeboten. In seiner Enzyklika „Miranda Prorsus“, also über die „wunderbare Erfindung“, stellte Papst Pius XII. schon 1957 und allein bezogen auf Film und Fernsehen klar: „Die Kirche erblickt in diesen Medien ,Geschenke Gottes‘, weil sie nach dem Ratschluss der göttlichen Vorsehung die Menschen brüderlich verbinden, damit diese im Heilswerk Gottes mitwirken.“7
Im Jahre 2002 hat sich der „Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikationsmittel“ explizit mit dem Dokument „Kirche und Internet“8 zu Wort gemeldet. Medien sollen nach der Enzyklika „Redemptoris missio“ über die fortdauernde Gültigkeit des missionarischen Auftrags (1990) von Papst Johannes Paul II. nicht nur „zur Verbreitung der christlichen Botschaft und der Lehre der Kirche“ eingesetzt werden, sondern „die Botschaft selbst muss in diese, von der modernen Kommunikation geschaffene ,neue Kultur‘ integriert werden“ (RM 37)9. Die Katholiken sollten sich, so derselbe Papst zehn Jahre später in einer Botschaft, nicht „scheuen, die Türen der sozialen Kommunikationsmittel für Christus aufzustoßen, so dass seine Frohe Botschaft von den Dächern der Welt gehört werden kann“10. Jüngst verdeutlichte Papst Franziskus dies in seiner Botschaft zum „Welttag für soziale Kommunikationsmittel“ und erklärte 2014 auch das Internet zu einem „Geschenk“ Gottes: „Habt keine Angst, Bürger der digitalen Umwelt zu werden.“11
Die technisch vorgegebene schrankenlose „Vernetzung“12 bringt nun aber auch systematisch Laieninhalte und Laienbeiträge auf eine Ebene mit den Erklärungen der Kirche. Das ließe an die oben genannten Bewegungen des 15. Jahrhunderts denken, als sich die „Brüder vom gemeinsamen Leben“ ebenfalls Foren und Medien schufen und ihre handschriftlich verbreiteten Textsammlungen, Gebetbücher oder Erfahrungsberichte aus der lokalen und persönlichen Praxis neben die Verlautbarungen der römischen Kirche stellten. Diese Konventikel und die heutige „Netzgemeinde“ zu vergleichen wäre reizvoll, aber auch die Bildung der Laienverbände und die entsprechenden Zeitschriftenpublikationen um 1900 stünden in dieser Linie.
Wenn heutige Diskussionen sich um eine Trias aus Digitalität, Globalität und Katholizität bewegen, dann wäre in der Tat eine devotio moderna digitalis als Beschreibungsformel zu erwägen. Diese klingt zunächst negativ im Sinne der götzenhaften Unterwerfung unter die neuen Angebote und Existenzformen. Diese Entwicklung beschreibt Józef Niewiadomski ganz dezidiert und eindringlich als „trügerische Wahrheit“ einer „globalen Moderne“. Er sieht sich seinerseits veranlasst, eine kritisch warnende Formel zu etablieren, die nun die Allgewalt einer allumfassenden „oeconomica et electronica quasi catholica“ auf den Punkt bringt. Digitale Medialität, wirtschaftliche Monopolisierung und neue Heilsversprechen verschmelzen zu vollkommener Kongruenz13. Ein Onlineaktivist wie Jim Gilliam referiert vielerorts über „The Internet is my religion“, womit er klar ausdrückt, dass er an Gott glaube, aber eben in Form des Glaubens an die Menschen, die durch das Internet verbunden sind und zusammen denken, handeln und sich damit selbst retten.

Digitaler Kulturimperialismus?

In der „Netzgemeinde“ schließen sich Menschen zusammen, aber in der Praxis bleibt jeder dennoch isoliert und tastet oft recht orientierungslos auf den verschlungenen Wegen der „digitalen Sinnsuche“. Der unaufhörliche Wandel der Daten, Fakten und Bilder bietet keinen festen Halt mehr, trotz Netz vereinsamt das Subjekt, ohne sich in einem wirklichen, physischen Zusammenhang mit einer Institution zu erkennen, die ihm Orientierung und Zusammenhalt gewährte. Kritiker sehen einen „digitalen Supermarkt der Religionen“, wo sich jeder einfach etwas Passendes zusammensucht. Probeweise aber ließe sich der Begriff einer devotio moderna digitalis nun auch positiv verstehen als Selbstorganisation, die ihrerseits die persönliche Frömmigkeit medial stützen und eine spürbare Gemeinsamkeit mit anderen (communio) erzeugen kann, die umfassend (als catholica) zu verstehen, aber auch konkret zu erleben ist. Es bedarf hierbei aber weiterhin der physischen Präsenz in einem konkreten Raum und in einer gemeinsamen Feier als Rückbindung in der Gemeinschaft, wie sie allein die Kirche und die Eucharistie bieten kann.
Notwendig scheint eine behutsame Lenkung des Netzgeschehens, eine pastorale Fundierung und Sinnexplikation, die nicht nur Verbindung, sondern auch Verbindlichkeit ermöglicht. Als Kernfrage stellt sich damit das Problem: Auf welche Weise lässt sich hier aktiv und gezielt, aber ohne verengende Autoritäten ein Netzwerk aufbauen, das auch singuläre Erfahrungen, Einzelerkenntnisse und isolierte Informationen in einer weltumfassenden Gemeinschaft zusammenführt? Wie können disparate Impulse im Zusammenhang so wirken, dass alle davon profitieren können?
Schon das Zweite Vatikanische Konzil erklärte in der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, dass die „Glieder der Kirche“ ihren Hirten „ihre Bedürfnisse und Wünsche mit der Freiheit und dem Vertrauen, wie es den Kindern Gottes und den Brüdern in Christus ansteht, eröffnen“ sollen. Aufgrund ihres besonderen Wissens, ihrer Kompetenz und Position hätten die Gläubigen sogar die Pflicht, „ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären“ (LG 37). Im Jahre 1971 erklärte dann die Pastoralinstruktion „Communio et progressio“ der „Päpstlichen Kommission für die Instrumente der sozialen Kommunikation“, dass die Kirche als ein „lebendiger Organismus der öffentlichen Meinung, die aus dem Gespräch ihrer Glieder erwächst, bedarf“ (Nr. 155)14. Und eben hierfür stellt nach heutiger Auffassung der Kirche das Internet ein „wirksames technisches Mittel für die Verwirklichung dieser Vision zur Verfügung“. Eine katholische Medienleistung wäre die Vernetzung aller singulären Daten und Stimmen zugunsten der Gesamtheit.
Wie aber soll das gehen? Internetkirchen wie „Universal Life Church“, wo jeder alles ist und darf, können die Lösung nicht sein. Freiheiten zu gewähren, aber die Einheit zu bewahren ist eine unaufhörliche Herausforderung, an der vor allem die Sekten gescheitert sind, wie etwa im Falle der Wiedertäufer, die „so viel Lehren verbreiteten wie sie Vorsteher hätten“ und „kein einziger mit einem anderen einig ist“, wie das schon Sebastian Franck 1531 beobachtete15.
Die Grundproblematik bleibt deshalb: Wie ist das Katholische als plurale Einheit zu bewahren? Wie sind Abspaltungen, Korrosion und Brüche zu vermeiden? Wer sondert unter den Bedingungen einer globalen Digitalität das möglicherweise Verderbliche aus, wer befindet darüber? Wie ist das Dilemma aus Freiheit und Autorität bzw. Wildwuchs und Ordnung zu lösen? Unter dem Angstwort eines digitalen „Kulturimperialismus“ schlug der Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikationsmittel im Jahre 2002 vor:

„Ein System der freiwilligen Zertifikation auf lokaler und nationaler Ebene unter der Überwachung von Vertretern des Lehramtes könnte hilfreich sein in bezug auf Inhalte doktrinärer oder katechetischer Natur. Die Idee ist nicht, eine Zensur einzuführen, sondern den Internetbenutzern eine verlässliche Führung anzubieten zu dem, was der authentischen Position der Kirche entspricht.“16

Denkbar wäre hier nun die vermittelnde Zwischenschaltung einer dritten Instanz zwischen Kirche und Laien, die sich ja schon lange bereithält und über eine fundierte Erfahrung verfügt: Genau dies wäre die Person des katholischen Intellektuellen. Dieser hätte kraft seiner jahrhundertlangen Expertise als Redakteur und Moderator zu wirken, hätte nach Maßgabe von memoria, intellectus und voluntas Positionen und Sachverhalte zu klären. Er kennt die Prinzipien bei der Gewinnung von Erkenntnis zwischen Sensitivität und Intellektualität, zwischen visueller Wahrnehmung und rationaler begrifflicher Umsetzung. Er kennt sich aus mit milieubedingter Vereinzelung und Formen der Kollektivierung.

Der katholische Intellektuelle

Der katholische Intellektuelle hätte mit scholastischer Komplexität so sorgsam umzugehen wie mit simplicianischer Einfalt, hätte Scharfsinn in der Kategorien- und Begriffsbildung aufzubieten, müsste konjekturale Prinzipien walten lassen, ohne Meinungen zu verdammen oder zu verklären. Im Sinne der intellectio als Kompetenz des prüfenden Erfassens von Inhalten hätte diese Menschengruppe alles Gegebene kritisch zu sichten und zu filtern. Statt trotziger Opposition käme das im besten Sinne aufklärerische Vermögen zur Geltung, Meinungen aufzubereiten und ihnen zur angemessenen Repräsentanz zu verhelfen, ohne sie absolut zu setzen, aber auch ohne sie jemandem abzusprechen oder gänzlich zu tilgen (Zensur). Stattdessen gälte es, immer auch anderen die Möglichkeit der Gegenrede zu eröffnen.
Die Problematik des spezifisch katholischen Intellektuellen liegt aber darin, dass es ihn bislang gar nicht geben durfte, weil sich nach gängiger Auffassung alle Intellektualität von Religiosität als einer rein „persönlichen“ Lebensauffassung zu distanzieren habe. Der Berliner Philosoph Stephan Steiner hat dies jüngst in aller Kürze zugespitzt, freilich ohne die Hoffnung aufzugeben, hier doch noch etliche Prototypen für die künftigen Debatten rekrutieren zu können. Religion gilt in der Tradition der Aufklärung auch in Deutschland als Privatsache. Sie ist nicht objektiv und damit unwissenschaftlich, ja dem Intellekt unzuträglich. So weit der Stand der Dinge. Bliebe abzuwarten, was sich hier zukünftig noch ergeben wird. Der aktuelle Befund aber lautet:

„Die Reflexion und Artikulation des Zusammenhangs von Wissenschaft und Lebensführung, die Erkenntnis, dass Wahrheitsfragen eine existentielle Dimension besitzen und sich nicht als reiner Wissensbestand erschöpfen, ist in Deutschland noch durch Sprachlosigkeit gekennzeichnet und besitzt kein öffentliches Forum.“17

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