Auf einem schwarzen Schimmel reitenZum 100. Geburtstag des Dichters Gerhard Meier (1917-2008)

Die Schweizer Literaturkritikerin Beatrice Eichmann-Leutenegger würdigt den Dichter Gerhard Meier (1917-2008), eine der originellsten Gestalten der deutschsprachigen Literatur.

Gehen, gehen, gehen, die Gedanken schweifen und den Kopf auslüften lassen. Den Schmetterlingen nachsehen und den Wolkenzügen, den eigenen Atem spüren und den Wind, der vom Jura herüber weht: „Das Gehen ist eine königliche Fortbewegungsart“, sagte er einmal. Auf den Fotos, die erhalten sind, geht er oft über die Felder, auf dem Kopf das Béret, über die Schulter eine Jacke geworfen, das Gesicht mit dem markanten Profil nach vorne gewandt. Auch seine literarischen Figuren Baur und Bindschädler gehen einfach so dahin, während sie darüber reden, was ihnen einfällt.
Vieles zog während des Gehens auch durch Kopf und Gemüt des Dichters, und es war bedrängend mehr, als was allein Auge und Ohr aufnahmen – es fiel ihn die Welt an. Seine Poetologie, falls man diesen gewichtigen Begriff verwenden will, entfaltete er in aller Beiläufigkeit, nicht im Rahmen eines theoretischen Diskurses. Ein Intellektueller war er nicht, und doch war er gesättigt mit Eindrücken aus dem Schaffen bedeutender Gestalten: Marcel Proust, Leo Tolstoi, Robert Walser, Virginia Woolf, Claude Simon, Adalbert Stifter. In wundersamer Weise verwandelte er sich deren Figuren und Landschaften an, ohne je bildungsbeflissen zu wirken. Jede Bemühtheit mied er. Dafür hing er den frei schwebenden Assoziationen nach, den zarten Schwingungen, den Bildern, Klängen, Düften und erregenden Paradoxien. „Kunst ist – auf einem schwarzen Schimmel reiten“, schrieb die Enkelin auf eine Zeichnung für den Großvater. Leichtigkeit zeichnete Gerhard Meiers körperliche und geistige Statur aus, der einst als turnerisch begabter Volksschüler hatte Artist werden wollen. Den Schalk umspielten Ironie und vor allem auch Selbstironie, und dennoch lag auf dem Grund eine Melancholie.
Denn alles Schöne, das ihn, den eminenten Augenmenschen, so sehr bezauberte, fiel der Vergänglichkeit zu. Unablässig folgte er daher den Spuren des Lebens. Bäume und Blumen im jahreszeitlichen Wandel, Menschen mit ihrem Werden und Vergehen: In all seinen Erscheinungen wollte das Leben geliebt werden. „Erinnern Sie sich an Chaplins Film ‚Limelight‘? Der alte Künstler gibt der verzweifelten Balletteuse, die ihr Leben wegwerfen will, einen Klaps und schickt sie auf die Bühne. Und jetzt tanzt sie, und wie sie tanzt!“, sagte Gerhard Meier während meines ersten Besuchs bei ihm, im Spätsommer 1976 in Niederbipp. Er saß im weißen Korbstuhl, mitten in seinem Garten, den die Düfte von Akelei, Flieder und Glyzinien durchwehten, parlierte wie Fontanes Stechlin und brach in ein herzhaftes Lachen aus, wenn ihn das eigene Pathos erheiterte.

Der Provinzler als Weltbürger

„Viele harren des Gelächters jetzt, des befreienden Gelächters, jetzt, zur Zeit der sanften Lichter“, schrieb Gerhard Meier in seinen 1969 erschienenen Prosaskizzen „Kübelpalmen träumen von Oasen“1. Sich selbst und die Kollegen nannte er „Schreiberlinge“, bezeugte aber Achtung gegenüber der jungen Autorengeneration; seine eigenen Texte bezeichnete er kurz als „Schreibe“. Er wehrte sich gegen jede Feierlichkeit, wie dies bereits in seinem Gedichtzyklus von 1967, „Im Schatten der Sonnenblumen“2, zu erkennen ist:

Schnupfen
Literaten

holen sich gelegentlich den
Schnupfen
bei Stelldicheins im
Transzendenten
Kühl weht der Wind
und aus der Nacht
der Städte
lecken Scheinwerf
er weisse Kathedralen

Selbststilisierung und Selbstinszenierung waren ihm fremd; seinem Werk gegenüber hegte er Demut. In seinem verschwiegenen Innern wusste er, dass ihm die Gabe des Schreibens geschenkt worden war und nicht auf eigenem Verdienst beruhte. „Setze auf die Gnade!“3, lautete sein Wahlspruch. Sein Werk öffnete sich gegen eine Unendlichkeit hin, skizzierte Räume, die sich weiter und weiter denken ließen, verwandelte die Landschaft am Jurasüdfuß in die märkische Welt Fontanes, in die Kronländer der Habsburger Monarchie oder in die Steppen Russlands, bevölkerte sie mit den Figuren aus Tolstois Romanen, so dass Fürst Andrej und Natascha aus dem Roman „Krieg und Frieden“ neu auflebten. Und dazu immer wieder die Klänge von Chopins oder Schostakowitschs Musik.
Gerhard Meier bewohnte fast ein Leben lang das über vierhundertjährige Elternhaus im bernischen Dorf Niederbipp, hart an der Grenze zum Solothurnischen gelegen. Klein und niedrig waren die Räume, schlicht die Einrichtung, die Anordnung der Geräte oft wie ein Stilleben und das Arbeitszimmer wie eine Mönchszelle anmutend. Das Dorf Niederbipp aber ging dank Gerhard Meiers Werk als Amrain in die Literatur ein. Es wurde zur Mitte des Daseins, in der sich alles bündelte: die Mikro- und die Makrowelt. Gerhard Meier brauchte die Sesshaftigkeit in der Provinz, um Welt an sich heran zu lassen. Was zudem verwundern mag: Nie erhob dieser Autor die eigene Kindheit zum Thema seines Schreibens, und nie gingen die Erfahrungen seiner Berufswelt in die Texte ein. Gleich zu Beginn seines Romans „Der schnurgerade Kanal“ sprach er vom malenden Kumpel, einem alter Ego, der nicht den Erwartungen entsprach:

„Man hat von einem Kumpel gehört, der als Rentner ins Malen kam. Dieser Kumpel malte nicht etwa Kohlehalden, Kumpel, Rollwagen oder gar die Zeche als Ganzes, sondern ganz anders: Dahlien zum Beispiel, überhaupt kleine Gärten, Weiden einem schnurgeraden Kanal entlang, Häuser, Mädchen, Wolken und Luft.“4

Konsequent sah Gerhard Meier von sich ab und war ohnehin „ein etwas ungeschickter, vielleicht auch störrischer, zumindest aber linkischer Agent in eigener Sache“5. Bescheidenheit leitete ihn, aber zugleich jener leise Stolz, welcher der Würde nahe steht. Als Schreibender hegte er ein deutliches Bewusstsein seiner selbst, seiner Möglichkeiten und Grenzen. Ein poète naïf, wie man zuerst vermutet haben mochte, war er nicht, denn die mündlichen und schriftlichen Aussagen zeugen von einem ausgesprochenen Konstruktionswillen, mit denen er seine Texte anging. Aber „eine gewisse Linkischkeit kann ich nun einmal nicht überwinden“6. Wie sehr geriet er da in die Verwandtschaft Robert Walsers!

Von der Ostseeinsel ins Juradorf

1964 veröffentlichte Gerhard Meier erstmals einen Lyrikband, „Das Gras grünt“, der sich lakonisch im Ausdruck gebärdete und die Dramatik im unscheinbaren Geschehen aufdeckte:

Erde
Denkt einer
Schnee
hängst du gemütvoll
Schwalbengirlanden
ins Einnachten
und längs der
Schienenwege
Wird einer zutraulich
lässt du ihn merken
dass Schmiede und
Einfältige deine
Bevorzugten
sind
Gebärdet sich einer
als währte er immer
und tapfer
verschweigst du
mit blumigem Lächeln
deine uralte
Diät
7

Siebenundvierzig Jahre alt war der Dichter zum Zeitpunkt seiner ersten Publikation. „Warum erst jetzt?“, fragte man sich damals in den literarischen Kreisen. Allmählich sickerte etwas von der Lebensgeschichte des Autors durch: dass Gerhard Meier schon früh zu schreiben begonnen hatte, sich aber vom zwanzigsten bis zum vierzigsten Lebensjahr eine völlige Abstinenz auferlegte, weil er den Unterhalt für seine Familie mit drei Kindern als Lackierer und später als Designer in der Lampenfabrik von Niederbipp bestreiten musste – ein Angestellter unter anderen im blauen Arbeitsgewand. Dass erst eine gesundheitliche Krise ihn zum Schreiben zurückgeführt hatte. Die Neugier war geweckt, der Geheimtip „Gerhard Meier, Dichter“ begann zu kursieren.
Am 20. Juni 1917 war er als Jüngster in Niederbipp geboren worden. Seine älteste Schwester zählte bereits 21 Jahre; vier Geschwister waren ausgeflogen, als der Knabe noch klein war. Seine Mutter, Karoline Auguste Johanna Meier-Kasten (1875–1951), erzählte ihm ab und zu von der Insel Rügen, wo sie bei Güstin aufgewachsen war, vom Meer, den Kreidefelsen und der Stadt Stralsund, den Kaiser- und Schiffsmanövern, dem Fürstenhaus Putbus. Auf der Insel Rügen – dem „Land der Winde“ im Werk des Dichters – hatte sie ihren späteren Ehemann Gottfried Meier (1871–1946) aus Niederbipp kennen gelernt. Dieser war aus materiellen Gründen gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert und hatte auf einem Rittergut eine Anstellung als Melker gefunden. Bald einmal übertrug man ihm größere Verantwortung, so dass er es bis zum sog. „Oberschweizer“ brachte; als „Schweizer“ bezeichnete man damals die in der Landwirtschaft tätigen helvetischen Einwanderer. Auf dem gleichen Gut arbeitete auch der Vater von Gerhard Meiers Mutter. Er hütete die Schafe, ging wegen des besseren Überblicks auf Stelzen und strickte, um die Langeweile zu vertreiben. So erzählte es Gerhard Meier später gerne.
In Bergen auf Rügen heirateten die Eltern 1895 und kehrten um 1906 nach Niederbipp zurück. Vier Kinder waren bereits geboren worden – die älteren drei noch in Preußen, das letzte in Böhmen. Vorerst fühlte sich die Familie im Juradorf fremd, besonders die deutsche Mutter, die sich durch ihre Sprache von den Dörflern abhob und den Solothurner Dialekt nie erlernte, sondern zeitlebens ein Kauderwelsch sprach. Der Vater fand nach Umwegen eine Stelle als Pfleger in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich, sodass der kleine Gerhard sozusagen vaterlos aufwuchs, weil der Vater nur im Abstand von Monaten die Familie besuchte. Dafür gedieh der Knabe im Schutzraum seiner Mutter, einer sehr stillen Frau, die Hühner, Enten und Gänse hielt, einen Weiher anlegte, Obstbäume und Blumen pflegte, um ihr kleines Rügen zu erschaffen, jedoch kaum Beziehungen mit den Dorfbewohnern einging. Bücher gab es keine, dafür eine große Freiheit für den kleinen Gerhard, der allein oder mit seinem älteren Bruder Willy (* 1914) Streifzüge unternahm und das Dorf erkundete, das für ihn von unveränderlichem Bestand erschien8.

Dora Vogel tritt in sein Leben

Gerhard Meier war ein guter Schüler, schrieb Aufsätze, für die er die Bestnote erhielt, und durfte bereits eigene Gedichte in ein Heft des Lehrers eintragen. Sein Berufswunsch: Er wollte Architekt werden. Da dieses Studium aus finanziellen Gründen nicht möglich war, denn auch in der Schweiz wirkte sich die Krise der Dreißigerjahre deutlich aus, begann er 1933 eine Ausbildung als Hochbauzeichner am Technikum in Burgdorf und las nun intensiv Kleist, Nietzsche und Lenau. Als der erste Abend im fremden Burgdorfer Haus anbrach, in dem er für die Dauer des Studiums ein Zimmer gemietet hatte, befiel ihn das Heimweh. Seine „Schlummermutter“ – so nannte man die Vermieterin von Zimmern – setzte sich ans Klavier und stimmte das Beresina-Lied an, dessen dritte Strophe lautet: „Mutig, mutig, liebe Brüder, gebt die bangen Sorgen auf ...!“9

Während einer Wanderung auf dem Weissenstein, dem Hausberg der Stadt Solothurn, lernte er 1935 die gleichaltrige Dora Vogel aus Wangen an der Aare kennen. Sie stammte aus einer Familie von Pietisten; die Vorfahren mütterlicherseits waren Prediger und Lehrer gewesen, jene auf der väterlichen Seite Zimmerleute und Gärtner. Wenige Wochen nach dieser ersten Begegnung schenkte Dora dem jungen Mann eine Bibel mit Widmung und dem Psalmvers (121, 7-8): „Der Herr behüte deine Seele; der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“10 1937 heirateten die beiden – blutjung, aber voller Zuversicht – und zogen drei Kinder auf: die beiden Töchter Ruth (* 1937) und Susanne (* 1940) und den Sohn Peter (* 1941). Die Lebensführung war schlicht und zwang zu Einschränkungen. Nach der Hochzeit zog das Paar zu Doras Eltern und wohnte dort bis 1942 in der Gärtnerei- Wohnung. Während längerer Zeit, bis 1958, fand die Familie einen Nebenerwerb im Anbau von Gemüse und Beerensträuchern sowie in einer Kaninchenzucht.
Gerhard Meier indessen hatte einem labilen Zustand ein Ende gesetzt und die Ausbildung am Technikum 1935 abgebrochen. Immer weniger hatte er sich in diesem Studium wohl gefühlt, weil er zwischen Architektur und Literatur schwankte. Aber angesichts seiner neuen Lebensumstände übernahm er nun Heimarbeiten für die Lampenfabrik AKA in Niederbipp und trat 1938 als Arbeiter in diese Firma ein, die wenige Jahre zuvor gegründet worden war und noch heute besteht. Dort arbeitete er die nächsten 33 Jahre, unterbrochen nur von seinem Aktivdienst während circa tausend Tagen im Zweiten Weltkrieg und einem längeren krankheitsbedingten Ausfall 1956/57. Im vertrauensvollen Gespräch mit Werner Morlang (1949–2015), wohl seinem besten Kenner, sagte der Dichter:

„Ich habe ganz unten angefangen. Ich habe gespritzt mit der Spritzpistole, ich habe geschweisst, ich habe geformt. Was anfiel an Arbeit in diesem Lampengewerbe, alle Sparten habe ich durchgespielt. Mein Gespür für Formen und meine Möglichkeit, das umzusetzen in Zeichnungen und in Modelle, hat mir schliesslich dazu verholfen, dass mir die Kreationen unterstellt wurden [...]. So hatte ich im Grunde genommen einen anspruchsvollen Posten, der mich voll brauchte, ausfüllte. Andererseits spürte ich mein innerliches Ungenügen zu diesem Beruf, zu dieser Art Leben und war jeweils froh, Stunde um Stunde, wenn ich es wieder geschafft hatte, oder von Zahltag zu Zahltag, wenn ich es wieder überstanden hatte [...].“11

Seine schriftstellerischen Versuche, die er während der Burgdorfer Zeit unternommen hatte, gab er kategorisch auf, fürchtete er doch, sein Erwerbsleben und damit seine Familie zu gefährden, wenn er sich auf die Literatur einließe. Zu groß war sein Respekt vor dieser Tätigkeit und der damit verbundenen Lebensart. Er wagte sich erst wieder ans Schreiben, als er 1956/57 wegen einer Lungenerkrankung ein halbes Jahr im Sanatorium Heiligenschwendi oberhalb des Thunersees verbringen musste, der ersten, 1895 eingeweihten Volksheilstätte der Schweiz für Tuberkulöse. Aber die Sprache war weg. Eine Rundfunksendung über die Lyrikerin Silja Walter OSB (1919–2011) ließ ihm jedoch keine Ruhe. Mit Hilfe eines Grammatikbuches vertiefte er sich in die deutsche Sprache, eignete sich stur die Regeln an und wagte erste lyrische „Fingerübungen“. Er schickte die Gedichte, welche 1964 in den Band „Das Gras grünt“ eingehen sollten, an Max Rychner (1897–1965), einen wichtigen Förderer von Autoren. Dieser publizierte ihre Texte im Feuilleton oder in der Wochenendbeilage der Zeitung „Die Tat“, welche von 1935 bis 1978 ein Forum für bekannte und unbekannte Stimmen darstellte.

Das Abenteuer gewagt und bestanden

Aber erst 1971 beendete Gerhard Meier seine Fabriktätigkeit, nachdem er noch bis zum Mitglied der Betriebsleitung aufgerückt war. Nun lebte er als freier Schriftsteller. Dieses Risiko ging er nur ein, weil sich seine Frau Dora, stets liebevoll „Dorli“ genannt, bereit erklärt hatte, fortan noch vermehrt zum Lebensunterhalt beizutragen. Während acht Jahren arbeitete Dora Meier-Vogel im Kiosk des Bahnhofs Niederbipp:

„Da hab ich dann das Mittagessen gekocht, hab es an den Kiosk gebracht, und dort haben wir zusammen gegessen, während Dorli die Kundschaft bediente. Am Abend bin ich wieder hingegangen, habe beim Einräumen der Zeitungsständer geholfen, um den Kiosk herum geputzt, angeklebte Kaugummis entfernt, und dann sind wir nach Hause gegangen [...]. Und zwischendurch habe ich geschrieben.“12

„Dieser Spinner“, sagten die Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand. Aber unbeirrt hielt Gerhard Meier seine Tagesordnung ein und schrieb an seinem Werk weiter. Noch wusste er nicht, „ob es mit der Schreiberei klappen würde oder ob es nur ein Spleen war“13. Doch die Texte erschienen in rascher Folge und fanden Anerkennung bei den Literaturkritikern der deutschsprachigen Schweiz. Einmal, es war im Jahr 1979, arbeitete das Paar im Garten, als das Telefon klingelte. Dorli eilte ins Haus, kehrte kurz darauf zurück und rief: „Du, Gerhard, der Peter Handke hat angerufen, komm schnell.“ „Ach, Dorli, da erlaubt sich jemand einen Spass mit mir.“ Aber es war kein Scherz, denn Peter Handke wollte die Hälfte des ihm verliehenen Franz Kafka-Preises dem Schweizer Gerhard Meier zukommen lassen. Er war durch den Grazer Schriftsteller Alfred Kolleritsch auf Gerhard Meiers Werk hingewiesen worden, las die Texte und erkannte deren literarische Qualität.
Dank dieser Geste des prominenten Schriftstellers wurde Gerhard Meier einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die internationale Literaturkritik entdeckte ein Juwel, die Preise trafen ein, das Feuilleton feierte den Mann aus Niederbipp, und zwei feinsinnige Dokumentarfilme von Friedrich Kappeler, „Gerhard Meier – Die Ballade vom Schreiben“ (1995) und „Gerhard Meier – Das Wolkenschattenboot“ (2007), trugen Werk und Biografie des Dichters in ein weiteres Publikum hinein. Aber Gerhard Meier hielt sich weitgehend vom Literaturbetrieb fern und setzte sein zurückgezogenes Leben unbeirrt fort, auch wenn nun Reisen zu Stätten möglich wurden, die er zuvor lebendig im Reich seiner Imagination getragen hatte, ohne sie real zu kennen: Rügen, die Heimat seiner Mutter, Jasnaja Poljana, Tolstois Lebenszentrum, oder das märkische Land Fontanes. Im Gespräch mit Heinz Janisch im Österreichischen Rundfunk (ORF) sagte er:

„[...] ich lebe sehr abseits, nicht aus Überheblichkeit, sondern es ist meine Art. Ich kann das nicht. Ich liebe die Leute, und ich habe gerne ein paar Leute um mich herum, aber ich kann da nicht so in organisierten Gesellschaften und Cliquen und Verbänden sein. Das zerschlägt mir den Atem, den Kopf.“14

Die Gemeinde Niederbipp verlieh Gerhard Meier am 13. Oktober 1997, dem Jahr seines achtzigsten Geburtstags, das Ehrenbürgerrecht. Gleichzeitig wurde auch seine Wohnadresse umbenannt: Der Lehnweg hieß nun Gerhard Meier-Weg.

Im Schattenboot

Am 17. Januar 1997 starb „mein liebes Dorli, unsere liebe Dora Meier-Vogel (1917– 1997). Sie hat uns viel bedeutet.“ So hieß es schlicht in der Todesanzeige. Am Morgen des Todestags hatte Gerhard Meier noch nach seiner Frau Dorli gerufen – und alles blieb still.
Einen Tag vor der Beerdigung traf ich Gerhard Meier unerwartet in den Arkadengängen der Berner Altstadt. Ich sprach ihn sachte an, und er sagte gefasst, dass er einen dunklen Anzug habe besorgen müssen. Aber er bebte vor verhaltener Erregung. Als am nächsten Tag, einem kalten 22. Januar, in der Kirche Dora Meiers Lieblingslied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud’ in dieser schönen Sommerzeit“ von Paul Gerhardt (1606–1676) erklang, wehte nochmals die Heiterkeit dieser Frau, genährt vom pietistischen Geist ihrer Herkunftsfamilie, durch den Raum. Wie aber würde es mit Gerhard Meier weiter gehen – nach einer sechzigjährigen ehelichen Gemeinschaft? Er habe bis anhin zu leichtfertig über den Tod geschrieben, sagte er mir am Tag des Begräbnisses seiner Frau.
Acht Jahre danach, 2005, überraschte er die Leserschaft mit einem schwerelosen Requiem: „Ob die Granatbäume blühen“. Der Titel, den der Bibelleser Gerhard Meier15 dem „Hohelied“ (6, 11) entnommen hat, gibt die Tonlage vor – jene des Entzückens, der Sehnsucht, der Wehmut. Grazie wohnt in seinen Sätzen für die verstorbene Gattin, und alles klingt mit: Anmut, Gnade, Dankbarkeit. Der schmale Text von fünfzig Seiten schreibt über den Tod der Gefährtin hinaus das Lebensbuch des Dichters fort, der nach eigenem Bekunden ohne diese Frau nicht hätte schreiben können. Sie hielt mit ihrer Disziplin alles zusammen und ermöglichte ihm die Ruhe für sein Tun, war seine erste Leserin – unbefangen und kritisch in der Beurteilung –, wie sie auch den Gästen, die zusehends das Haus in Niederbipp aufsuchten, mit entwaffnender Sicherheit begegnete und sie kulinarisch verwöhnte. Und als Katharina ging sie neben Kaspar, dem alter Ego des Dichters, durch die Texte.
Wie in allen seinen Büchern steht auch in diesem Memento das Ferne in geschwisterlicher Nähe zur eigenen Erfahrung. Ebenso fließen Feiertag und Alltag des gemeinsamen Lebens zusammen. Reminiszenzen an Ferien im Bergell, in Split oder im Berner Oberland beginnen wieder zu leuchten: „In Brienz, auf der Strandpromenade, kommst du manchmal auf mich zu, mehr schwebend als gehend und strahlend vor Glück.“16 Und wie er schon zu Lebzeiten mit seiner Frau alles geteilt haben mag, auch die Lektüreerlebnisse und die Leitsätze seiner Poetik, gehen diese selbstverständlich in den Gedenktext ein:

„Oft auch haben es mir die letzten Seiten der ‚Wiedergefundenen Zeit‘ angetan, wo Marcel [Proust] noch einmal von dem Glöckchen des Gartentors in Combray spricht und sich vornimmt, falls er sein Werk überhaupt vollenden könne, dessen Protagonisten als Wesen darzustellen, die gleichzeitig an weit auseinander liegende Epochen rührten, als wesende Riesen der Zeit.“17 Am Ende seines Mementos führt auch Gerhard Meier noch einmal entlegene Räume, Gestalten und Zeiten in einem visionären Bild zusammen: „

Dorli, wenn wir wieder zusammen sind und die Wildkirschen blühn und es der Natascha, dem Fürsten Andrej und der Lara nicht gerade ungelegen kommt, gleiten du und ich in deinem Schattenboot von Walden her über die Waldenalp hin, Richtung Lehnfluh, eskortiert von Kohlweisslingen, Distelfaltern, Abendpfauenaugen und einem Admiral.“18

Ein Haschen nach Wind

Als Gerhard Meier elf Jahre nach dem Tod seiner Frau starb, hinterließ er ein Werk, das über die Jahre hinweg einen beachtlichen Umfang erreicht hatte, ohne je an poetischer Kraft einzubüßen. Mit Gedichten hatte er seinen literarischen Weg begonnen, war dann zu kurzen Prosatexten gekommen. 1976 legte er einen ersten Roman („Der Besuch“) vor, dem 1977 ein zweiter („Der schnurgerade Kanal“) folgte. Im Rückblick erstaunt der Wandel, den der Lyriker Gerhard Meier zum Romanautor vollzogen hat. Waren die Gedichte vom Lakonismus bestimmt, so entfalteten sich die freilich lyrisch getönten Romane in weithin schwingenden Sätzen, die sich nicht selten über eineinhalb Seiten hinweg zogen. Sein Verfahren erläuterte Gerhard Meier mit einem scheinbar beiläufigen Bild:

„Katharina häkelte indessen an ihrer wollenen Decke weiter, dabei quasi in Wolle praktizierend, was Kaspar vom Roman erwartet hatte, eben dass er gewissermassen einem Teppich zu entsprechen hätte, handwerklich gefertigt, mit Motiven und Farben, die sich wiederholten, in Entsprechungen und Anklängen, so dass sich ein Ganzes ergebe, ein Abbild des Lebens.“19

Aber wie soll man Inhalte erfassen können, wenn in diesen Büchern Geschichten den Leser bloß wie einen Hauch streifen? Nach dem Besuch einer Ausstellung über den englischen Maler und Aquarellisten William Turner im Kunsthaus Zürich schrieb Gerhard Meier:

„Ich glaube, seit ich Turner gesehen habe, sehe ich die Malerei, ja die Welt schlechthin anders [...]. Diese geradezu ungeheuerliche Betonung des Hauchhaften gibt’s wohl sonst nirgendwo [...]. Ja, ich glaube seither unverschämter daran, dass unsere Welt eine Traumwelt ist und dass alle jene, die uns um diesen Traum bringen wollen, zumindest keine Realisten sind [...]“20.

Für Gerhard Meier zählt nicht eine kompakte, fassbare Geschichte, sondern – wie er in Anlehnung an Kohelet (1, 2-3) sagt – „das Haschen nach Wind“. So wartet der Mann auf Zimmer 212 der Psychiatrischen Klinik St. Urban lediglich auf einen möglichen Besuch und probt das Gerede. Wie in einem musikalischen Stück ziehen sich die Leitmotive durch diesen Roman „Der Besuch“, und mit der Verwendung des Konjunktivs erschafft der Autor den für ihn bedeutsamen Schwebezustand zwischen Fakten und Fiktionen. „Der schnurgerade Kanal“ wiederum spricht verhalten von einer unerfüllten Liebe zwischen der Ärztin Helene W. und dem Architekten Isidor A. und berührt „ein Thema, welches zu meinen großen Themen gehört, die mir bis anhin die Sprache verschlagen haben [...].“21 Daher ist diese unglückliche Liebe, die für Gerhard Meier „möglicherweise die eigentliche Liebe ist“22, nur andeutungsweise präsent. Am Schluss des Romans „Der schnurgerade Kanal“ steht die in der Sekundärliteratur immer wieder erwähnte „Bachthalener Predigt“, die der Schriftsteller K. hält. Hinter K. verbirgt sich Gerhard Meier, der hier sein künstlerisches und religiöses Credo prägnant in drei Sätzen bündelt:

1. Ich mag das Haschen nach Wind.
2. Als Christ darf ich arm sein und schwach.
3. Als Christ darf ich wissen, dass wir Vertriebene sind – die aber heimfinden23.

 

Gerhard Meier versteht Kohelets Sätze von der Nichtigkeit aller Dinge nicht als Zeugnis eines allumfassenden Pessimismus, sondern als ein Plädoyer für den zerbrechlichen Menschen. Daher ist auch der Satz „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2 Kor 12,9) für den Dichter zu einem Lebenssatz geworden. Der fragile Mensch ist jener Anti-Held, der mit wechselnden Gesichtern und Namen durch Meiers Bücher geht – eine Gegenfigur zum Macher, zum Technokraten. Wie das menschliche Bemühen immer wieder auf die Vergeblichkeit stößt und diese doch überwinden möchte, so kreiert auch die Poesie ihr Werk aus täglicher Mühsal, die der Schaffende stets von neuem übersteigt, um Texte in den Wind zu schreiben und Windfiguren zu gestalten. Denn menschliches Leben und künstlerisches Tun sind nichts als „ein Haschen nach Wind“: „Nie habe ich mich einspannen lassen vor den Karren jener Herolde, die jeweils Eden auszurufen beliebten, das neue natürlich, mit Blut und Tränen erkauft. Verfallen hingegen war ich von jeher der Hinfälligkeit, dem zerbrechlichen Menschen, dem Klang, der die Welt ausmacht.“24

Ein Buch über nichts

Auf die beiden ersten Romane folgen jene vier Werke, die man später zur „Amrainer Tetralogie“ zusammengefasst hat: „Toteninsel“ (1979), „Borodino“ (1982), „Die Ballade vom Schneien“ (1985) und „Land der Winde“ (1990). Das Motto der „Toteninsel“ gibt die Devise für die nachfolgenden Bücher vor, Flauberts Satz nämlich: „Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts.“ Nicht eine kompakte Handlung rückt in den Mittelpunkt, sondern die Ereignislosigkeit des Alltags. Aber im Gleichmaß des Lebens wollen die Nuancen erspürt werden – das ist vielleicht sogar die wahre Entdeckungsreise. Gerhard Meiers Werke sind denn auch nicht Handlungsbücher, sondern Gesprächsbücher, zumeist mit einem offenen Schluss versehen, der das Fragmentarische betont. Unaufhörlich reden die Freunde Baur und Bindschädler miteinander – der eine so sehr der Spiegel des andern, dass sie für den Leser oft kaum auseinanderzuhalten sind. Sie erzählen einander von Schicksalen der Menschen aus Amrain, von den Lebensläufen der Verwandten, von Sinneseindrücken während ihrer Stadtwanderungen durch Olten oder Solothurn, von Lektüreerlebnissen und Eindrücken in Kunstausstellungen.
Ihre Erörterungen ziehen sich über die nächsten Bücher fort, bis endlich Baur im Roman „Die Ballade vom Schneien“ krank im Spital von Amrain liegt. Bindschädler begleitet den Freund in der letzten Nacht, zuhörend und sich erinnernd, während Baur – euphorisiert durch Morphium – sein Leben in Fragmenten zurück holt: ein Leben, das sich in der überschaubaren Region Amrains erfüllt, aber nie den Blick auf die Welt verloren hat. Diese Welt hat sich für Baur vorerst nicht durch direkte Aneignung bzw. Anschauung erhellt, sondern er ist auf sie durch Buch, Film, Musik und Malerei gestoßen, hat die Eindrücke danach in seinem Bewusstsein geborgen und oft erst später mit der Realität vergleichen können – wie es auch Gerhard Meier ergangen ist. Rückblickend mutet diese Anverwandlung erstaunlich an, hat sich doch Gerhard Meier die fernen Welten in einem lebenslangen autodidaktischen Prozess heran geholt, ohne sich auf eine entsprechende schulische Formation stützen zu können.
Später in dieser Nacht beginnt es zu schneien, in großen Flocken, die den Landstrich weiß einfärben. Erst gegen den Morgen hin, da Baurs Leben erlischt, endet auch der Schneefall, und in Bindschädler „schwang Schostakowitschs Vierte“ aus. Dieser Hinweis führt zu einem der wichtigsten Elemente in Gerhard Meiers Werk: zur Musik. Sie hebt nicht nur die Grenzen auf, sondern bestimmt auch Abfolge und Dynamik der Sätze. Ebenso knüpft sie Beziehungen zwischen der Erfahrungswelt des Dichters und dem Programm des musikalischen Werks: So vermittelt etwa Anton Bruckners 1. Sinfonie, besonders das Adagio, ein Gefühl von Heimatlichkeit. Ähnlich verhält es sich mit den häufigen Verweisen auf Werke der Malerei, besonders auf jene von Paul Klee, Mark Rothko und Caspar David Friedrich. Solche Referenzgrößen sind kaum als „Vorbilder“ zu bezeichnen; eher möchte man von Affinitäten, von Wahlverwandtschaften sprechen.

Das Licht als Zeichen

Mit Gerhard Meier ist eine der originellsten Gestalten in die deutschsprachige Literatur eingetreten. Und ein wahrer Dichter dazu. Unvergessen bleibt der Mann mit seiner Herzlichkeit, seinem Schalk, seiner unaufdringlichen Noblesse, seiner Aufmerksamkeit dem Du gegenüber. Als Schreibender indessen hat sich Gerhard Meier stets in der Rolle des Zuschauers gesehen und sich jene Frage gestellt, die in die Mitte seiner Erzählkunst zielt:

„Wo mag Robert Walser gestanden haben, wenn er die Welt abbildete? Etwas daneben, vermutlich. Leicht erhöht. An einem Abgrund gar. Wobei über seiner Welt jener Nebel gelegen haben muss, der beim Hervortreten der Sonne vergeht, zerfließt, das Licht durchlässt und allem, was man durch ihn sieht, zauberhafte Formen und Umrisse gibt, und in dem überall der Widerschein des Morgenlichts aufblitzt.“25

Das Licht rückt in Gerhard Meiers Werk nebst dem Klang zur immateriellen Größe auf. Baur und Bindschädler sinnieren über dieses Phänomen, das zunehmend als Zeichen für Göttliches aufscheint. Vorsichtig sagt Baur schließlich, indem er sich an die Scheu des Autors hält, Großes je auszusprechen: „Es ist vermutlich so, dass Gott letztlich nicht die Liebe ist, sondern das Licht.“26

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