Angst und VertrauenZwei Existentiale und ihre Aktualität

Umfragen bestätigen, was schon ein Blick in die sozialen Medien befürchten lässt: Die Angst in der Gesellschaft nimmt zu. Objektiv gesehen ist die Angst oft unbegründet und steht im Gegensatz zur faktischen Lage, schreibt Joachim Valentin, Direktor der Katholischen Akademie Haus am Dom in Frankfurt am Main und Professor für Christliche Religions- und Kulturtheorie. Was dagegen hilft, ist Vertrauen.

Warum heute nachdenken über Angst und Vertrauen? Weil Angst überall zu herrschen scheint, in weit höherem Maße als in früheren Zeiten und Vertrauen von Vielen als wirksames Mittel gegen die Angst empfohlen wird. Als jemand, der seit sieben Jahren ausführlich facebookt, kann ich das nur bestätigen. Zumindest wird hier und anderswo von einigen wenigen Menschen, gemeinhin „Trolle“ genannt, versucht, mit nicht selten hetzerischen Kommentaren das Vertrauen in unsere Demokratie und die herrschenden Politikerinnen und Politiker aber auch in Kirchenobere zu untergraben, ein Klima des Misstrauens zu sähen und alle möglichen Katastrophen zu nutzen, um Angst zu verbreiten. Von Wahlbeeinflussungen in den USA und anderswo durch gezielte Desinformation ganz zu schweigen. Angst scheint also etwas zu sein, mit dem man Politik machen kann. 

Doch was ist eigentlich Angst und was ist das Gegengift dagegen – Vertrauen? Diesen beiden Fragen möchte ich gerne im Folgenden nachgehen. Zuerst sind aber einige zusätzliche Bemerkungen zur Diagnose der aktuellen Lage geboten: Zygmunt Bauman, Philosoph und Soziologe und erst kürzlich verstorben, hat eines seiner letzten Bücher „Die Angst vor den anderen“1 genannt. Er setzt sich darin mit der Migration von aktuell vielleicht 100 Millionen Menschen weltweit und deren Folgen für soziale Systeme in westlichen Gesellschaften auseinander. Woher kommt die Angst bei so Vielen in relativ wohlhabenden Gesellschaften, die wir überall in unserem privaten Umfeld und in den (sozialen) Medien wahrnehmen?
Bauman sieht eine zentrale Ursache in der Erosion sozialer Systeme wie etwa den Gemeinschaften in Dörfern und Kleinstädten, aber auch in der Anonymität des Lebens in der Großstadt, welche dem Einzelnen nicht die gewohnte positive Rückmeldung gibt: „Du gehörst dazu“, „Du wirst gebraucht“, „Du bist ein Guter“. Hinzu kommt die Entfesselung, Flexibilisierung und Globalisierung der Arbeitsmärkte. So ist im letzten Jahrzehnt ein soziales und psychisches Prekariat entstanden, ein Gefühl von Unsicherheit und Prekarität, das weit in die Mittelschichten hineinragt. Der Soziologe Heinz Bude spricht in seinem aktuellen Buch „Gesellschaft der Angst“ von den „Abgehängten“ 2. Das können durchaus auch gut verdienende Abteilungsleiter sein, die bei der letzten Beförderung oder Gehaltserhöhung übergangen wurden.
Gemeint ist damit das Phänomen, das der deutsche Soziologe Ulrich Beck schon vor Jahren „Individualisierung“ genannt hat:3 die Tatsache, dass jeder Mensch streng nach den Gesetzen der Ökonomie behandelt wird, also für sein Wohlergehen ganz alleine verantwortlich ist. Kein Staat, keine Großfamilie und auch keine Religionsgemeinschaft und erst recht nicht der Markt springt letztlich für ihn ein und rettet ihn, wenn sein Leben finanziell oder sozial scheitert. Diese Individualisierung unterstützt und aktualisiert offenbar eine in jedem Menschen angelegte allgemeine Daseinsangst, von der später noch die Rede sein wird, und wird so zu einem eminent wirksamen politischen Instrument.
Was man eigentlich als Versagen der Politik begreifen könnte, hält Zymunt Bauman zugleich für ein Potential, mit dem zweifelhafte Politiker und Scharfmacher in vielen Teilen der Gesellschaft nun wuchern. Politik unterliege im letzten Jahrzehnt dem Trend einer „Versicherheitlichung“ und antworte so auf die beschriebene Mentalitätsverschiebung. Politik löse die Probleme aber nicht wirklich, sonst müsse fundamental über gerechte Löhne, gerechten Welthandel usw. gesprochen und entsprechend gehandelt werden, sondern sie „verschiebt Probleme, die der Staat nicht zu lösen vermag, auf Probleme, mit denen die Regierung sich […] eifrig und erfolgreich auseinandersetzt“4. Und vor allem: Sie externalisiert die Ursache der Probleme aus dem eigenen System auf fremde Staaten, Religionen und Ethnien. Muslimische Flüchtlinge sind in diesem strategischen System zur Lösung selbstgeschaffener Probleme geradezu eine ideale Projektionsfläche, denn mit ihnen kommen anderswo ungelöste Probleme, kommt die Globalisierung zu uns. Es wird so drängend klar: Es gibt keine Inseln der Sicherheit mehr, auf die man sich mit gutem Gewissen zurückziehen könnte. Man kann nur eines von beidem haben: Sicherheit oder ein gutes Gewissen.
Verbindet man nun aber gar das an sich bereits als Verunsicherung und beängstigend empfundene Migrationsthema mit dem islamistischen Terror, so sind die Ergebnisse bei einem großen Teil der Bevölkerung naheliegend und verheerend: Es entsteht eine diffuse Angst vor dem Fremden, ohne dass ernsthaft Lösungen oder Verantwortliche zur Hand wären.
Dabei wissen wir alle, dass das Risiko an Krebs oder an einem Autounfall zu sterben um ein Vielfaches höher ist als die Bedrohung durch Terroranschläge. Wer aber Angst hat, fragt nicht nach den Fakten. Er fragt vielmehr, wer ihn oder sie schützen kann. Entsprechend sind starke Männer oder Frauen gefragt, denen man sich fraglos anvertraut. Ob Donald Trump, Marine le Pen, Recep Tayyip Erdoğan oder Victor Orbán: Je größer die Angst, desto größer das Bedürfnis nach einem Beschützer mit möglichst unbegrenzter Macht. Doch dieses Vertrauen in starke Männer ist genau betrachtet auch Zeichen einer schleichenden Säkularisierung, denn eigentlich war es einmal die Religion, genauer: der Glaube an einen allmächtigen Gott, welche als erste die Antwort auf große, fundamentale oder gar kosmische Ängste zu geben versprach. Was heißt es aber für das viel beschworene Gottvertrauen, wenn wir darauf angewiesen sind, nicht mehr einem allmächtigen Gott, sondern starken Menschen zu vertrauen? Zygmunt Bauman schreibt weiter zu den Ursachen der Angst vor den Anderen:

„Das Gespenst, das in einer Gesellschaft von Menschen umgeht, die vor allem Leistung erbringen sollen und wollen, ist die Angst, sich selbst als ungenügend – unfähig und ineffizient – zu fühlen, und die Angst vor den unmittelbaren Auswirkungen dieser Einsicht – dem Verlust der Selbstachtung – sowie ihren wahrscheinlichen Folgen: Ablehnung, Verbannung und Exklusion.“5

Es sind also wieder Ängste, die eigentlich ganz woanders entstehen, bei uns selber nämlich, welche auf Flüchtlinge projiziert werden als diejenigen, die uns angeblich unsere Frauen, Arbeitsplätze, die Sozialfürsorge oder durch viele Kinder den Platz zum Leben wegnehmen.
Schon Immanuel Kant hat die Grundproblematik der Aufklärungs- und Globalisierungseffekte, welche sich bereits zu seiner Zeit ankündigten, erkannt und in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ durchaus im Sinne der biblischen Tradition der Erzmütter und Propheten eine weltweite Gastfreundschaft vorgeschlagen:

„Hospitalität bedeutet das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange der Fremde aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, darf er ihm nicht feindlich begegnen.“6

Wie kommt es, dass wir noch 200 Jahre nach Kants Einsicht zögern, die gleichzeitige Gegebenheit von Nationalstaat und Globalisierung mit diesem fairen Kompromiss zu lösen? Es scheint Themen zu geben, bei denen nicht zuerst eine Sachorientierung, oder die menschliche Kompetenz Probleme zu lösen, im Mittelpunkt stehen; auch nicht die zumindest philosophisch unstrittige Verantwortung gegenüber dem anderen Menschen, wie sie Immanuel Kant und noch schärfer vor einigen Jahrzehnten der jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Levinas formuliert haben, sondern tiefer liegende, instinktive Kräfte, welche den Selbsterhalt vor die Verantwortung schieben und in einer gefühlten Notsituation von Politikern und Populisten aktiviert und missbraucht werden können.
Eine gerechte Weltwirtschaft, ein Marschallplan für Afrika, ein Ende des USAmerikanischen Unilateralismus, der etwa zum Irak-Krieg mit einer Million toten Zivilisten und damit zum IS-Terror geführt hat – das wären Schritte zu einer Verbesserung der Lage für alle Beteiligten. Doch die Lage in Europa wird nur selten unter diesen Gesichtspunkten, dafür aber umso selbstverständlicher in Kategorien der Angst und der Verteidigung gegen eine diffuse Bedrohung von außen diskutiert. Namhafte Regierungen im Osten Europas, aber auch Frankreich, Spanien und Großbritannien haben sich weder an einer der genannten Maßnahmen, noch an einer konstruktiven Flüchtlingspolitik beteiligt, die etwa eine gerechte Verteilung der geflüchteten Menschen auf alle europäischen Staaten ermöglichen und einen Beitrag zur Problemlösung leisten würde. Wir müssen also noch eine Schicht tiefer graben und nach Angst und Vertrauen als Existentiale, im Sinne von vom Bewusstsein nur bedingt steuerbaren menschlichen Grundgefühlen fragen.

Angst – was ist das?

Wenn wir in die Geistesgeschichte schauen, und nach der Bedeutung oder gar einer Phänomenologie der Angst fragen, stoßen wir als ältestes Zeugnis auf das griechische Wort angchein, das „Würgen“ oder „(Er-)drosseln“ bedeutet, und sind damit sofort bei der Angst als körperliches Phänomen. Angst schnürt uns die Kehle zu, Angst macht die Brust eng und nimmt den Atem, wie die lateinischen Worte für Angst, angor und anxietas, nahelegen, von denen sich auch unser deutsches Wort herleitet. Sie bedeuten schlicht „Würgen“, „Beklemmung“ oder „Enge“. Im Englischen heißt die Angst anxiety und im Französischen angoisse. Frühe christliche Reflexionen über die Angst schließen gerne an Johannes 16,33 an, wo Jesus spricht „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ In diesem Satz steckt natürlich mehr als nur eine Beschreibung der Angst als Phänomen. Jesus bietet den Christgläubigen auch ein Konzept für ihre Überwindung an, den Glauben an den Gottmenschen Jesus Christus und seine Erlösungstat in Kreuz und Auferstehung. Die frühe christliche Theologie kennt damit also die Weltangst und stellt ihr die Gottesfurcht als Mittel zur Befreiung von Angst vor Irdischem durch den Glauben an einen die Welt erschaffenden und in Liebe beherrschenden Gott gegenüber.
Ein Name, der in unseren Überlegungen auf keinen Fall fehlen darf, ist der Søren Kierkegaards. In seinem Werk „Der Begriff Angst“ fasst er die Angst als Gefühl des heutigen Menschen, wenn er auf die unendlichen Möglichkeiten seiner Freiheit schaut. Im Schwindel, der angesichts dieses Abgrundes der Möglichkeiten entsteht, sieht Søren Kierkegaard die Wurzel der Angst, die zugleich Angst vor der Möglichkeit sein soll, schuldig zu werden. Vermutlich ist das oben bereits skizzierte Phänomen der Angst in wohlhabenden Staaten von Kierkegaards Analyse nicht allzu weit entfernt. Aber: Welche Freiheiten, die uns ängstigen könnten, haben wir denn angesichts von drohender Arbeitslosigkeit, Verarmung oder umfassender Internetüberwachung durch die Großen Vier: Google, Facebook, Amazon und Apple, von der NSA ganz zu schweigen? Ist unsere Angst nicht eher von anderen gemacht? Wäre eine Welt mit gerechter Ökonomie und Politik nicht auch eine weitgehend angstfreie Welt?
Fragt man grundsätzlich nach Angst als Existential, kommt Martin Heidegger ins Spiel, den man trotz seiner massiven Verwicklung in nationalsozialistisches Gedankengut in diesem Punkt nicht außen vor lassen kann. Denn er hat zwar auch Kierkegaard gelesen und geschätzt, aber in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) wird die menschliche Angst noch grundsätzlicher, nämlich als Existential, gefasst. Heidegger entwickelt hier zuerst den Gesamtrahmen der Sorge: Der Mensch muss sterben, sein ganzes Leben ist unbewusst von diesem Endpunkt her bestimmt und durchwirkt. Jeden Tag müssen kleine Tode gestorben oder abgewendet werden und letztlich weiß er, dass er – so der atheistische Philosoph Heidegger – ins Nichts fällt, vom Nichts umzingelt ist. Angst ist also nichts Krankhaftes, das man therapieren muss oder durch politische Maßnahmen ganz aus der Welt schaffen könnte, auch wenn es pathologische und politisch instrumentalisierte Formen der Angst gibt, sondern gehört zur Grundausstattung des sterblichen Menschen: „Angst kennen weder Engel noch das Tier“.
Die kurz eingeführten philosophischen und religiösen Einsichten von einer Allgegenwart der Angst werden scheinbar weder von der Psychologie noch von der Psychiatrie geteilt. Die Angst ist gemäß dieser Weltanschauungen nicht nur messbar, sondern auch durch die Pharmakologie bestens in den Griff zu bekommen. Anxiolytica, „Angstlöser“, werden in Massen hergestellt und verbraucht. Auch der Philosoph Martin Heidegger hatte zwar anerkannt, dass Angst oft physiologisch bedingt sei, doch er hielt fest: „physiologische Auslösung von Angst [werde] nur möglich, weil das Dasein im Grunde seines Seins sich ängstet.“7
Jenseits der Psychiatrie wird Angst in der Psychoanalyse auf jeden Fall begriffen als etwas, das man vermeiden kann, das erst bei Verlusten und traumatischen Ereignissen in der frühen Kindheit entsteht. Die Gesichter der Angst sind vielfältig: Ob als Daseinsangst, allgemeine Schicksals-, Verarmungs- oder Berufsangst tritt die Angst bei Sigmund Freud fundamentaler als Kastrationsangst, Schuldangst und Todesangst auf, also Ängste, die den Liebes-Verlust betreffen. Freuds Schüler und Nachfolger machen darüber hinaus traumatische Geburtserfahrungen und ein fundamentales Minderwertigkeitsgefühl als Quelle aktueller Ängste aus.
Angst hat also viele verschiedene Gesichter und auch in der heutigen gesellschaftlichen Situation dürfte die Verarbeitung der in der Globalisierung intensivierten neuen Unübersichtlichkeit und scheinbaren Bedrohung von jedem einzelnen noch einmal unterschiedlich, je nach Typ, verarbeitet werden.
Angst ist hoch individuell, aber auch stark von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Wenn wir auch das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die allgemeine Sorgestruktur des menschlichen Lebens als Hintergrundrauschen für die Angstfähigkeit und -bedrohtheit des Menschen mit Heidegger und Kierkegaard fassen dürfen, wissen wir doch nicht, ob beispielsweise die Menschen der Eiszeit Beziehungs- und Berührungsängste gekannt haben. Vermutlich waren sie wie nahezu alle Menschen über Jahrtausende bis zur Neuzeit derart mit der Notwendigkeit des Überlebens beschäftigt, dass ihre Bedrohung mehr biologisch als psychologisch erfassbar gewesen sein dürfte. Ihre Angst dürfte damit auch eindimensionaler gewesen sein als heute, wo wir ja medizinisch von der Agoraphobie bis zur Arachnophobie dutzende Formen der Angst unterscheiden und vielleicht sogar trotz Wohlstand und hoher Bildung als Gesellschaft der Angst bezeichnet werden können. Wir haben also auch unsere Angst zivilisiert und seziert, sehr genau von allen Seiten betrachtet, ja vielleicht sogar gezüchtet. Obwohl unser Leben immer sicherer wird, nimmt unsere Angst nicht ab sondern zu.

Vertrauen

In der christlichen wie in der jüdischen Religion ist Vertrauen kein Terminus, keine Haltung unter anderen, sondern steht im Mittelpunkt. Denn das lateinische Wort religio selber, meint ja eine vertrauensvolle Rückbindung an Gott und die von ihm gewünschten Riten und Regeln. Das in der christlichen Bibel fast 300 Mal vorkommende griechische Wort pistis wiederum wie auch das hebräische Wort emuná können sowohl mit „Vertrauen“ als auch mit „Glaube“ übersetzt werden. Wer also Religion hat und wer glaubt, der vertraut auf eine zentral sichernde Instanz, auf Gott und die von ihm offenbarte Religion.
Im Alten Testament taucht die Wortwurzel Betach – „Vertrauen“, „sich verlassen“ auf, vor allem in den Büchern Jesaja, Jeremia und in den Psalmen, vereinzelt auch im Buch Hiob, also da, wo die Unsicherheit, das Exil und die Klage des einzelnen Beters zum Thema werden:

„Nach Dir Herr verlangt mich / Mein Gott, ich hoffe auf Dich; lass mich nicht zuschanden werden, dass meine Feinde nicht frohlocken über mich“ (Ps 25,1 ff.).

„Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem soll ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? / Wenn die Übeltäter an mich wollen, um mich zu verschlingen, meine Widersacher und Feinde, müssen sie selber straucheln und fallen. / Wenn sich auch ein Heer wider mich lagert, so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht; wenn sich Krieg wider mich erhebt, so verlasse ich mich auf IHN“ (Ps 27,3).

„Gelobt sei der Herr, denn er hat mich erhört, die Stimme meines Flehens. / Der Herr ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn traut mein Herz und mir ist geholfen. Nun ist mein Herz fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied“ (Ps 28,7).

In Jeremia 17,5 heißt es: „So spricht der Herr: Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt […] und weicht mit seinem Herzen vom Herrn. Der ist wie ein Strauch in der Wüste und wird nicht sehen das Gute, das kommt […] Gesegnet ist der Mann der sich auf den Herrn verlässt und dessen Zuversicht der Herr ist. Der ist wie ein Baum am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. […] er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.“

Und schließlich noch ein Beleg aus Jesaja 30,12: „So spricht der Heilige Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und vertraut auf Frevel und Mutwillen und verlasst euch darauf, so soll euch diese Schuld sein wie ein Riss, der aufbricht und klafft an einer hohen Mauer, die plötzlich unversehens einstürzt.“

In diesen und vielen anderen Texten wird die absolute und ausschließliche Hingabe an Adonai bekannt und gefordert. Ein Vertrauen auf Adonai, das Hoffnung auf Errettung (Hiob 11,18) und Glauben an den Gott der Väter mit einschließt.8 Es wird aber auch gedroht: mit Entzug der Fürsorge und Huld, mit Verderben und Tod demjenigen, dessen Vertrauen zu klein ist.
In der christlichen Bibel ist uns die Bedeutung des Glaubens bzw. des Vertrauens (pistis) in der Predigt Jesu gut in Erinnerung. Nach Meinung namhafter Exegeten ist es ein Schlüsselbegriff der frühchristlichen Verkündigung. Allerdings geht es der jungen Gemeinde um Glauben und Vertrauen an den am Kreuz erhöhten, die Gemeinde erlösenden Jesus Christus. Für Jesus selbst geht es noch um Vertrauen in das Handeln des guten Vaters im Himmel, Abba, der jedes unserer Haare gezählt hat und uns mit allem versorgt, was wir brauchen, wenn wir nur auf ihn vertrauen. Ja, Jesus glaubt sogar, dass der Glaube Berge versetzt (Mt 17,20 par), dass er zwar klein scheine wie ein Senfkorn, aber doch zu einem großen Baum wachsen könne (Lk 17,6 u.ö.). Jesus nennt seine Jünger häufiger „Kleingläubige“, etwa, wenn Petrus der Gang über den See nicht gelingt, und er untergeht, oder wenn sie nicht auf das Kommen des Reiches Gottes vertrauen. Und er lobt den Glauben, das Vertrauen derjenigen, die er heilen kann, und sagt: „Dein Glaube, dein Vertrauen hat dich gerettet“.
Nur Gott allein aber ist in der Lage, so Großes zu wirken; der Beitrag des Menschen besteht darin, seinem Wort zu glauben, auf ihn zu vertrauen. Das Vertrauen wächst im Gebet. So betet etwa der um Heilung seines Kindes bittende Vater: „Ich vertraue, hilf meinem Misstrauen.“ (Mk 9,24). „Solchen Glauben [solches Vertrauen] „besitzt“ man nicht; er ist eine ständige Bewegung vom Unglauben hin zum Glauben, und damit ist er das dem Angebot der Güte Gottes gegenüber einzig angemessene Verhalten.“9
Paulus sieht dieses Vertrauen zu Recht im Tenach begründet und angekündigt: Im Römerbrief dient ihm vor allem die Abrahams-Verheißung (Gen 15) zum Vorbild. Abrahams Glaube ist ebenfalls bereits ein „Sich-Halten“ an Gottes Zusage unter Absehen von eigenen Ängsten und Begrenztheiten. Er bricht in ein vollkommen unbekanntes Land auf: „Wie Abraham da, wo nichts mehr zu hoffen war, sich an die Zusage des Gottes hielt, der die Toten auferweckt und das Nichtseinde ins Sein ruft (Röm 4,17), so ist christlicher Glaube das Sich-Halten an das Wort dessen, der Christus von den Toten auferweckt hat und den Gottlosen in Christus gerecht spricht (Röm 4,5.24).“10
Und die heutige Theologie? Karl Rahner wies in einem Grundsatztext zu „Angst und christlichem Vertrauen“ kurz vor seinem Tod, 1981,11 darauf hin, wie fundamental Angst und Vertrauen einander zugeordnet sind. Er schrieb: Die „erlösende Grundannahme unserer angsthaften Existenz [kann] entfaltet werden in die drei christlichen Grundexistentiale Glaube, Hoffnung und Liebe.“ Für Rahner umfasst der Begriff Vertrauen alle drei christlichen Grundvollzüge, und er versteht Vertrauen folgendermaßen: „Es ist […] ein freies, das Subjekt als solches wagendes und weggebendes Sicheinlassen auf die Existenz als ganze und eine. Dieser Akt […] vollzieht sich […] in der Hinwendung zu den konkreten Aufgaben der Freiheit im Umgang mit den einzelnen materiellen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeiten.“ 12 In seiner hier deutlich von Heidegger herkommenden Sprache fasst Rahner das von ihm gemeinte Vertrauen als ein „in Angst angstlos Sich-loslassen-dürfenund- doch-nicht-fallen (oder in die Hände dessen […] allein fallen, den wir Gott nennen).“13
In dieser Formulierung begegnet Angst ebenfalls als Grunderfahrung, als Existential, aber der Schritt auf Gott oder den anderen Menschen hin erfolgt in Angstlosigkeit. Der Mensch wird für einen kurzen Moment die Angst los. Er entkrampft sich und macht einen vertrauensvollen Schritt. Die Sorge, sich selber zu verlieren, verletzbar zu werden, Kontur und Wiedererkennbarkeit einzubüßen, wird kleiner und das Vertrauen wächst, doch im Ende nicht tiefer fallen zu können als in die Hände Gottes. Dass dieses Vertrauen eine eminent eschatologische, eine endzeitliche Dimension hat, dass es nur trägt, wenn auch die letzte große Bedrohung, der Tod, in der Hand Gottes ruht, wieder von Jesus in Tod und Auferstehung überwunden wurde, kann nur angerissen werden.14 Ein Vertrauen in Gott als letzte sichernde Instanz im Diesseits trägt nur, wenn er unsere Zeit ganz in Händen hält und der Tod nicht das Ende ist.
Rahners Begriff von christlichem Vertrauen bestimmt ebenfalls die ganze Existenz, liegt also noch einmal hinter oder unter unserem alltäglichen Vertrauen in Lebenspartner, Arzt oder Gebrauchtwagenhändler. Er gebraucht dabei ein schönes deutsches Wort:

„Man ist trotz der immer gegebenen Angst im Letzten gefasst […] Man lebt in solcher Gefasstheit aus eigener Überzeugung, dass letztlich eben doch nichts passieren kann (trotz der Ungesichertheit des Daseins, die nur gesichert ist in ihrer freien Annahme). […] Man erfährt trotz aller Angst eine innere Unbeschwertheit, Gelöstheit und (scheinbar gegenstandslose) Heiterkeit. […] Man wendet sich liebend dem Nächsten zu […] man vergisst sich darüber und ist zufrieden.“15

Rahner ist sich natürlich darüber im Klaren, dass diese letztlich religiöse, ja sogar mystische Erfahrung für eine psychotherapeutische Anwendung nicht taugt. Schwere Traumata oder ein nicht vorhandenes Urvertrauen sind nicht einfach durch genug Glauben zu heilen.
Lassen Sie uns deshalb noch einmal kurz auf eine psychologische Fassung des Vertrauens-Themas schauen, das Ihnen allen auch vertraut sein dürfte: Erik Erikson hatte in den 50er-Jahren den Begriff Urvertrauen geprägt. Es wird in der allerfrühesten Kindheit im Spannungsfeld zwischen Bekommen und Geben entwickelt. Der Säugling ist darauf angewiesen, von der Umgebung gepflegt und gehalten zu werden, nur so kann sich sein Urvertrauen ausbilden.16 Ob auf sein Schreien mit Pflege und Zuwendung reagiert wird, ist entscheidend. Gewinnt das Kind Urvertrauen, hat es eine Basis für den Aufbau vertrauensvoller Selbst- und Fremdbeziehungen entwickelt. Verharrt es aufgrund seiner frühen Erfahrungen im Misstrauen gegenüber der Außenwelt, drohen schizoide und depressive psychopathologische Verstörungen.17 Und doch ist die Analogie zwischen dem zwischenmenschlichen Vertrauen, dem „Sich Verlassen auf ein Gegenüber angesichts eines ungewissen und risikohaften Ausgangs einer Handlung unter freiwilligem oder erzwungenem Kontrollverlust“ und dem Vertrauen in Gott deutlich sichtbar und wechselseitig voneinander abhängig. Wer Menschen nicht vertrauen kann, wird schwerlich Gott vertrauen und umgekehrt.

Die Aktualität von Angst und Vertrauen

In den bisherigen Ausführungen ist vieles angerissen und geklärt worden, was für unsere heutigen gesellschaftspolitischen Fragen relevant sein dürfte. Doch zunächst sieht das Problem der Angst nicht nach einer leicht lösbaren Aufgabe für Politoder Sozialingenieure aus, denn es sind mindestens zwei Faktoren in den Blick gekommen, die sich einer schnellen Instrumentalisierung entziehen: die Entstehung frühkindlichen Vertrauens bzw. tiefsitzenden Misstrauens und fundamentaler Ängste, die das menschliche Verhalten weitreichend beeinflussen können, sowie der jüdische bzw. christliche Glaube, die ein weitreichendes Mittel gegen die Angst vor der Welt, die Angst als Krankheit zum Tode sein können, die aber als Schuldangst oder falsch verstandene Gottesfurcht auch ihrerseits angsterzeugend wirken können. Insgesamt wird aber deutlich, dass starke Persönlichkeiten mit gesundem Ur- und/oder Gottvertrauen sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen lassen. Dass der Umgang mit Neugeborenen, aber auch die Pflege religiöser Systeme, in denen sich ein menschenfreundliches und tieftragendes Gottvertrauen entwickelt, für eine Gesellschaft konstitutiv sind.
Das sind Bereiche, auf die Politik keinen Einfluss hat. Doch die Frage, welcher Gott denn in unseren Moscheen, Synagogen und Kirchen gelehrt wird, könnte entscheidend sein. Ist es ein Gott, der Angst macht, der willkürlich straft und das Ruder meines Lebens herumreißt, oder einer, dem ich vertrauen kann, der mich in meinem Ich-Sein und in meiner Freiheit wirklich will und bestärkt und dessen Gebote solche sind, die das Leben und den anderen Menschen sein lassen, oder die den anderen vernichten wollen?
Auch Zygmunt Bauman kritisiert zwar die „Versicherheitlichung“ unserer Politik und die hohe Bedeutung, die ungerechtfertigterweise dem Thema der Migration und der angeblichen Bedrohung eingeräumt wird. Doch er wendet sich wie Bibel und Theologie dem Kleinraum des Zwischenmenschlichen zu und gibt einen wichtigen Hinweis. Am Ende seines Buches verwendet er die Begriffe „Lebenswelt-Verschmelzung“ oder „Horizontverschmelzung“, die Hans Georg Gadamer, [Heideggers Schüler, Anm. d. Red.] geprägt hat. Wie kommt man aber dahin, dass sich Lebenswelten und Horizonte von Mitbewohnern und Fremden verschmelzen, dass das neuerdings auch von vielen Politikern beschworene „neue Wir“ entsteht? Es klingt banal, ist aber nicht einfach: durch Verstehen:

„Das Grundmodell des Verstehens, zu dem Gadamer in ‚Wahrheit und Methode‘ gelangt, ist das des Gesprächs. Zum Gespräch gehört ein Austausch zwischen Gesprächspartnern, der auf ein Einvernehmen in irgendeiner Frage zielt; folglich steht solch ein Gespräch niemals vollständig unter der Kontrolle eines der Gesprächspartner, sondern wird durch die betreffende Frage bestimmt […] da es sowohl beim Gespräch als auch beim Verstehen darum geht, zu einem Einvernehmen zu gelangen, erfordert jedes Verstehen so etwas wie eine gemeinsame Sprache, wenn auch eine, die sich erst im Prozess des Gesprächs herausbildet.“18

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