"Denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen"Die deutsche Vertriebenengeschichte und die aktuelle Migrationsdebatte

Flucht und Vertreibung von Deutschen haben in den ersten Nachkriegsjahren Deutschland geprägt. Stefan Gärtner, Juniorprofessor für Praktische Theologie an der Universität Tilburg (Niederlande), geht Zusammenhängen zwischen der traumatischen Vertriebenengeschichte und der aktuellen Migrationsdebatte nach.

Die Erinnerung Israels daran, selber fremd gewesen zu sein und fliehen zu müssen, und das Gebot der Fremdenliebe hängen im Alten Testament – etwa im Buch Deuteronomium 10,19 – eng miteinander zusammen. Es ist ohnehin von den ersten Zeilen an, über die Vertreibung aus dem Paradies, ein Buch voller Migrationsgeschichten. In der Folge gilt es nicht nur, die eigene Familie oder die Landsleute zu lieben, sondern dasselbe Recht kommt auch dem Fremden zu. Als Volk von Flüchtlingen wurde Israel zum auserwählten Gottesvolk. Weil Er im Exil und beim Exodus treu geblieben ist und Israel befreit hat, soll es den Migranten im eigenen Land ebenfalls gut behandeln.
Die Verbindung, die hier zwischen einer identitätsstiftenden Erinnerung und dem ethischen Verhalten gegenüber Fremden gezogen wird, führt zu der Fragestellung dieses Essays: Welche Beziehung besteht zwischen der Flucht und Vertreibung der Deutschen in der End- und Folgezeit des Zweiten Weltkriegs, sowie ihrer oftmals problematischen Ankunft im Restdeutschland, und der aktuellen Migrationsdebatte?

Die deutsche Vertriebenengeschichte

Deutschland hat 2015 knapp 900 000 Flüchtlinge aufgenommen; 2016 waren es immer noch 280 000 Menschen. Das sind mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern. Es sind aber wenige, verglichen mit den bis zu 13 Millionen Menschen, die ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus den ehemals deutschen bzw. den besetzten Gebieten in Mittel- und Südosteuropa vertrieben wurden. Sie zogen in ein Land, das nicht wie heute zu den wohlhabendsten der Welt zählt, sondern total verwüstet war.
In den letzten Kriegsmonaten hatte es zunächst eine panische Flucht der Deutschen vor der Roten Armee und die sogenannte wilde Vertreibung gegeben, d. h. die gewaltsame Vertreibung durch die lokale Bevölkerung aus Rache für das erlittene Leid. Später wurde die Aussiedlung staatlich betrieben, was freilich ebenfalls zu Härten führte, wie Plünderungen, Massenausweisungen und die Festsetzung in Internierungslagern. In manchen Gegenden wurden die Menschen innerhalb weniger Stunden mit erlaubten 20 Kilo Gepäck in die Flucht geschlagen. Dabei betrafen diese Maßnahmen wegen der Abwesenheit der wehrpflichtigen Männer vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen. Neben der Konfiszierung des Besitzes zählten die Erfahrung von Gewalt und Hunger, Entwurzelung und zerrissene Familienbande sowie körperliche Auszehrung zu den Kennzeichen der Vertreibung.
Auch in der neuen Heimat war man nicht unbedingt willkommen1. Neben Verständnis wurde den Zwangsausgesiedelten abweisend begegnet. In der Regel war ihre Migration mit sozialem Abstieg verbunden. Zudem waren die wirtschaftliche Lage und die öffentliche Verwaltung im Nachkriegsdeutschland desolat.
Die Vertriebenen waren überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen und wurden bei der Wohnraumverteilung benachteiligt. Wenn man die Aufnahmelager verlassen konnte, kam man nicht unbedingt in eine komfortablere Lage, denn mehrere Familien mussten sich eine Wohnung teilen. Daneben gab es die Angst der einheimischen Bevölkerung vor Überfremdung sowie die ganz pragmatische Verteidigung von Eigeninteressen. Die Vertriebenen hatten außerdem weniger Ähnlichkeiten mit den Einheimischen als man wegen ihrer gemeinsamen Nationalität meinen könnte. Katholische Schlesier wurden zum Beispiel in Niedersachsen angesiedelt; die Konfessionszugehörigkeit wirkte damals noch als soziales Distinktionsmerkmal. Zusätzlich bestanden auch innerhalb einer Konfession Differenzen, weil es unterschiedliche Frömmigkeitstraditionen gab. So feierten Katholiken mit der lateinischen Messe zwar eine einheitliche Liturgie, doch noch wichtiger waren die landsmannschaftlichen Eigenheiten bei den Kirchenliedern, der Marienfrömmigkeit oder dem religiösen Brauchtum. An ihrer Aussprache, den wenigen verbliebenen Habseligkeiten und ihrer ärmlichen Kleidung waren die Migranten so wie heute ebenfalls sofort zu erkennen.
Auch mentalitätsmäßig waren die Heimatverbliebenen und die -vertriebenen trotz der gleichen Kulturzugehörigkeit einander manchmal fremd. Es fand keine Solidarisierung unter dem Dach der gemeinsamen Nationalität oder des kollektiven Schicksals statt. Stattdessen wurden die Zwangsausgesiedelten durch Unterscheidungen wie einheimisch/geflüchtet stigmatisiert, mit entsprechenden Stereotypen (Polacken, Zigeuner, Rucksackdeutsche) belegt und von einem einfachen Zugang zur Ankunftsgesellschaft ausgeschlossen. Sie entwickelten ihrerseits eine Gegenidentität mit einer Betonung des Eigenen und der Differenzen2. Der bundesrepublikanische Mythos, dass die Integration wegen des Wirtschaftswunders problemlos und schnell verlaufen sei, erweist sich durch den noch lange feststellbaren sozialen und ökonomischen Rückstand der Heimatvertriebenen als falsch.
Für diese galt häufig, „dass neben die eher abstrakte, formaljuristische Inklusion die alltäglich erfahrene Exklusion aus dem sozialen und kirchlichen Leben trat“3. Zwar waren sie nach außen hin gleichberechtigt, faktisch wurde man aber marginalisiert und zog sich auch selbst in die familiären und landsmannschaftlichen Bezüge zurück. Die Anfeindungen der Aufnahmegesellschaft führten also dazu, dass die Vertriebenen unter sich blieben und die eigenen Traditionen und Gewohnheiten umso intensiver pflegten. Erst seit den 1950er-Jahren verkleinerte sich die Kluft zwischen Alteingesessenen und Migranten, und es kam zu einer langsamen Angleichung der sozialen und ökonomischen Unterschiede. Allerdings blieb auch dann noch eine Diskrepanz zwischen der nach außen hin erfolgreichen Integration durch Arbeitsplatz, Heirat oder Hausbau und der Verarbeitung des persönlichen, familiären und landsmannschaftlichen Schicksals4. Letzteres dauerte viel länger und reicht über die Generationenfolge hinaus.
Die Migrationsgeschichte der deutschen Vertriebenen ist allerdings vielschichtig und unterscheidet sich nach Herkunfts- und Ankunftsregion, Konfessionszugehörigkeit, Zeitpunkt der Aussiedlung oder persönlicher Lage. Es gab also „nicht eine Integration, es gab viele verschiedene Wege zu einer Eingliederung der Vertriebenen in Deutschland, viele verschiedene ‚Integrationen‘“5. Statt der Anpassung der Migranten an eine homogene Leitkultur, die ihrerseits alles Neue abwehrt, handelt es sich bei Zuwanderung immer, also nicht nur in unserem speziellen Fall, um einen komplexen Prozess gesellschaftlicher Interaktion. Darin beeinflussen alle Seiten einander, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Integration besteht demnach nicht aus der einseitigen Forderung an diejenigen, die hinzukommen, sich anzupassen6. Die Aufnahmegesellschaft verändert sich ebenfalls. Integration ist somit nicht Assimilation, auch wenn viele Vertriebene den Druck zur Anpassung spürten, sondern sie ist im besten Fall eine dynamische und wechselseitige Beeinflussung.
Den Vertriebenen stellte sich allerdings in der ersten Zeit nicht die Frage der Integration. Vielmehr hofften sie darauf, bald wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Diese Erwartung wurde durch die politische Entwicklung mit der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen durch die deutschen Regierungen und die Ost- West-Polarisierung im Kalten Krieg enttäuscht. Die Heimatvertriebenen wurden zu „mehrfach traumatisierten Menschen. Sie haben nicht nur gelitten unter dem Unrecht, das sie während der Besatzungszeiten in ihrer Heimat erleben mussten. Es folgte die Vertreibung mit ihren Schikanen und Strapazen, der Neuanfang in der Fremde, die sie sehr häufig als kalt, abweisend, demütigend erlebten, schließlich die Zurücksetzung bis hin zu der Verdrängung ihres Schicksals aus der Erinnerungskultur“ 7. Die Migranten fühlten sich von der Politik verraten und in ihrem Leid nicht ernst genommen. Insbesondere die Vertriebenenverbände kultivierten einen entsprechenden Opferdiskurs. Diese Auseinandersetzungen reichen bis in die Gegenwart hinein, wie die Debatten über das Zentrum gegen Vertreibungen zeigen.

Die Kirchen und die Vertriebenen

Die Konfessionsgemeinschaften spielten eine aktive Rolle bei der Eingliederung der Vertriebenen im Westen Deutschlands. Dabei war dies zunächst eine caritative Aufgabe. Es ging um konkrete Überlebenshilfe und die Befriedigung der elementarsten Grundbedürfnisse. Die Kirchen gewährten insbesondere den eigenen Mitgliedern praktische Hilfe als Arbeitgeberin, bei der Unterbringung im Lager, bei der Arbeitssuche und Familienzusammenführung oder durch die Ausstattung mit Hausrat und Kleidung8.
Auch die Besatzungsmächte setzten in der unübersichtlichen Nachkriegszeit auf die Unterstützung durch die Kirchen, weil diese zum einen eine relative Distanz zum alten Regime gewahrt hatten und zum anderen als einzig verbliebene Ordnungsmacht über eine flächendeckende Organisationsstruktur und internationale Kontakte verfügten. Beides machte die Konfessionsgemeinschaften auch wegen des zunächst bestehenden Koalitionsverbots zu einem wichtigen Stabilitätsfaktor in einer Phase des allgemeinen Zusammenbruchs.
Die Ankunft der Migranten sorgte neben der wirtschaftlichen Lage oder der Wohnungsnot allerdings auch für kirchliche Probleme. So hatte sich durch den Zuzug von Flüchtlingen die Zahl der Katholiken, etwa auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone, beinahe verdreifacht. Wenn manche von ihnen weiter nach Westen zogen, ergaben sich dort ähnliche Herausforderungen. Das Diasporabistum Hildesheim zum Beispiel bestand 1950 zu 70 Prozent aus vertriebenen Katholiken, das an der Ostgrenze gelegene Bistum Meißen gar zu knapp 90 Prozent.
Oftmals stellte sich die kirchliche Integration in solchen Diasporagebieten noch als relativ einfach dar. Die Hinzugekommenen konnten nämlich ihre vertrauten Frömmigkeitspraktiken fortführen, weil es in der Ankunftsregion nur wenige Alteingesessene der eigenen Konfession gab. In den katholischen Gegenden Westdeutschlands konnte es dagegen zu Spannungen zwischen den Vertriebenen und der einheimischen Bevölkerung kommen, weil diese zum Beispiel weiterhin alle Sitzplätze in der Kirche für sich beanspruchte. Dementsprechend waren es insbesondere die Seelsorger aus der alten Heimat und die mit vertriebenen Landsleute, die in der ersten Zeit Halt und konkrete Hilfe beim Neubeginn im Westen boten. Der eigene Glaube erwies sich dabei für viele als eine wichtige Ressource9.
Die vertriebenen Seelsorger waren allerdings ihrerseits in der Ankunftsregion nicht immer wohlgelitten. Auch sie hatten mit Vorurteilen und einem Abrutschen in der kirchlichen Hierarchie zu kämpfen, zuweilen mit der offenen Feindseligkeit ihrer ortsansässigen Amtsbrüder. Verbunden mit deren Weigerung, die liturgischen Gebräuche der Neuankömmlinge wertzuschätzen, hatte das eine

„mit dem Rückzug auf ‚Sonderveranstaltungen‘ wie Wallfahrten und Flüchtlingsgottesdienste verbundene Privatisierung der Frömmigkeit oder auch eine Entfremdung von der Gemeinde und der Kirche zur Folge, so dass Vertriebene gerade in katholischen Gebieten in den Prozess einer beschleunigten Säkularisierung zu geraten drohten.“10

Angesichts dieser Gefahr wurde nach der Phase der akuten Nothilfe die Frage virulent, wie die hinzugekommenen Glaubensgeschwister in die Kirche vor Ort dauerhaft eingegliedert werden konnten. Zunehmend sah man die innerkirchliche Differenzierung zwischen Heimatvertriebenen und -verbliebenen kritisch, weil damit die Einheitlichkeit des katholischen Volksteils in Bedrängnis gerate11. Der Zusammenschluss wurde durch Vorurteile auf beiden Seiten erschwert. Erst in den 1960er-Jahren ist die kirchliche Integration als vollzogen anzusehen, wobei der Kirchenneubau oftmals eine wichtige symbolische Funktion hatte.
Vor der Eingliederung galt es, das Problem der kirchlichen Doppelstrukturen zu lösen. Es war in den evangelischen Kirchen weniger virulent, weil sich die Kirchenführerkonferenz in Treysa bereits 1945 darauf verständigt hatte, das landeskirchlichterritoriale Prinzip auf alle Flüchtlinge anzuwenden. Auf katholischer Seite gab es dagegen weiterhin die Herkunftsbistümer der Migranten. Daneben bestanden eine Ausbildungsstätte für Priesteramtskandidaten aus dem Osten und eine landsmannschaftliche Seelsorge mit eigenen Gottesdiensten, Wallfahrten und praktischer Fürsorge neben der territorialen Pastoral in der Ankunftsregion.
Dagegen bevorzugten die lokalen Kirchen immer schon die Integration der Neuankömmlinge in die bestehenden diözesanen Strukturen. Insbesondere die Bischöfe dachten im Rahmen eines Geschlossenheitsparadigmas und taten sich schwer damit, eigene Vertriebenenseelsorger zu ernennen oder parallele landsmannschaftliche Aktivitäten zu akzeptieren. Es gab die Angst vor einer dauerhaften „Sonderkirche“, während die Zwangsausgesiedelten ihrerseits den Wunsch nach eigenen Organisationsformen hatten12. Sie wollten ihre landsmannschaftliche Identität, Sitte und Frömmigkeit weiterhin pflegen, selbst nachdem (und vielleicht gerade weil) eine Rückkehr in die Herkunftsregion unrealistisch geworden war und sie in Westdeutschland sozial und ökonomisch angekommen waren. Auch dann blieb es bei der Sonderseelsorge für die Anliegen der Ostflüchtlinge. Offensichtlich ist diese pastorale Aufgabe weiterhin wichtig, wie wir an der Langzeitwirkung von Migrationserfahrungen sehen werden13.

Langzeitfolgen der Vertreibung: intergenerative Traumatisierungen und Verhaltensmuster

Insbesondere traumatische Erlebnisse bei der Migration haben Einfluss auf die spätere Lebensführung und die Gesundheit, selbst wenn dies unbewusst bleibt. Zunächst garantiert nämlich gerade die Verdrängung dieser Geschehnisse das Überleben. Das gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, die sich auf der Flucht stark zeigen mussten oder die parentifiziert wurden. Nach Schätzungen haben bis zu 30 Prozent der Deutschen, die den Krieg als Kind erlebt haben, davon ein Trauma bekommen, weitere 30 Prozent haben belastende oder schädigende Erlebnisse gehabt14. Die gewaltsam erzwungene Migration aus der Heimat gehört dazu.

Im Nachkriegsdeutschland genossen das materielle Überleben und später der Wiederaufbau des Landes Priorität. Das unterstützte das Verschweigen des Erlebten. Es gab wenig Raum für das persönliche Schicksal. Stattdessen standen die unmittelbare Lebensbewältigung und für die Vertriebenen zusätzlich die Anpassung an die Umstände in der neuen Heimat im Mittelpunkt. Danach geriet deren Trauer über den Verlust der Heimat durch die Aussöhnung mit den Nachbarstaaten im Osten unter den Verdacht des Revanchismus. Zudem hatten die anderen Völker ebenfalls gelitten, und die Deutschen waren dafür verantwortlich gewesen. Dies alles förderte die Abwehr der Erinnerungen an die Migration. Die Traumata und andere Erlebnisse wurden verdrängt, sie äußerten sich nur in einzelnen Flashbacks oder werden erst in späteren Lebensphasen virulent; als psychosomatische Erkrankung, bei einer existenziellen Krise oder in einem geringeren Wohlbefinden und einer eingeschränkten körperlichen Funktionsfähigkeit15. Außerdem waren in der Nachkriegszeit Vertreibungsschicksale so häufig, dass man ihrer Bedeutung für psychische Auffälligkeiten gar nicht gewahr wurde.
Daneben bot die Einbettung der persönlichen Geschichte in die kollektive einen gewissen Schutz. Der Rückzug in die Gruppe der Schicksalsgenossen der erzwungenen Migration, die wir oben angesprochen haben, findet hierin eine weitere Erklärung. Weil viele in der Umgebung dasselbe erlitten hatten, konnten die eigenen Erlebnisse mit dem Schicksal anderer verglichen und die eigentliche Unerträglichkeit der Traumata relativiert werden. Damit verdrängte man das erfahrene Leid, so wie es auch andere taten.
Die Tatsache zum Beispiel, dass der eigene Mann oder Vater im Krieg vermisst oder verstorben war, in alliierter Kriegsgefangenschaft saß oder dass er zu den Trägern und Profiteuren des nationalsozialistischen Regimes gehört hatte, betraf viele Familien. Das Schicksal der deutschen Migranten ist somit nicht von dem der heimatverbliebenen Zeitgenossen zu trennen. Neben der Abwesenheit der Väter ist dabei an die Folgen eines ideologischen Erziehungssystems, an die Verdrängung der Schuldfrage im Nachkriegsdeutschland und an die kollektive Scham über die aktive Beteiligung oder Passivität angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen zu denken.
Daneben ist zu beachten, dass nicht nur Traumatisierungen und die Notwendigkeit, deren Auswirkungen auf die körperliche oder geistige Gesundheit zu behandeln, die Erfahrungen von Migranten ausmachen. Auch jenseits von Krankheitssymptomen wirkt das Erlebte weiter. Außerdem führt nicht jedes traumatische Ereignis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung, wenn das Erlebte in einem stabilen Beziehungsnetz aufgefangen werden kann. Nicht die traumatische Situation selbst ist somit entscheidend für Belastung, Krankheit oder Hilflosigkeit, sondern die Unmöglichkeit ihrer Bearbeitung und biografischen Integration.
Die Migrationserfahrungen wurden aber oftmals im hintersten Winkel der Erinnerung versteckt. Es brauchte einen äußeren Anstoß, damit sie wieder ins Bewusstsein treten. In seiner Novelle „Im Krebsgang“ (2002) hat Günter Grass dieses Tabu durchbrochen. Er erzählt von der Versenkung eines überladenen Flüchtlingsschiffs, der Wilhelm Gustloff, die in den letzten Kriegsmonaten 9000 Menschenleben forderte. Das Erscheinen des Buches öffnete für manche die sorgfältig verschlossenen Türen zu den schmerzhaften Erinnerungen an die eigene Flucht. Dazu trugen in der Folgezeit auch populäre Bücher bei, in denen Kriegskinder und deren Kinder ihre Erinnerungen teilen.
Die für viele Vertriebenenschicksale typischen Verhaltensmuster wurden nämlich an die Kinder- und Enkelkindergeneration weitergegeben16. Das geschah oftmals unbewusst, weil über das Erlebte auf der Flucht in den meisten Familien nie gesprochen wurde. Wenn dies doch einmal geschah, spalteten viele dabei die eigene Betroffenheit ab, indem sie im neutralen Stil die bloßen Tatsachen berichteten oder das Erlebte wie ein Abenteuer erzählten17. Auch die Zustände in der alten Heimat wurden entweder verdrängt oder idealisiert.
Die Tabuisierung von Traumata wirkte besonders verheerend, wenn die Kinder die Hilfslosigkeit ihrer Eltern spürten und auf Fragen keine Antworten bekamen. Neben diesem Verstummen merkten die Kinder dem Verhalten ihrer Eltern etwas an: unerklärliche Stimmungsschwankungen, Empathielosigkeit, reinen Pragmatismus, einen eisernen Willen zur Zufriedenheit, Bindungsunfähigkeit oder Ordnungswut. Es fand ein intergenerativer Transfer von traumatischen Geschehnissen statt, wie die gewaltsame Trennung von der Mutter, der Kontakt mit Toten oder das Erleben von Erschießungen, Luftangriffen oder Vergewaltigungen, sowie deren Abwehr im Alltag.
Die Strategien der Eltern, die diesen das Überleben auf der Flucht und bei der Ankunft in der neuen Heimat ermöglicht hatten, wurden so an die nächsten Generationen vererbt18. Dabei ging es um Härte gegen sich selbst, das Zurückstellen von eigenen Bedürfnissen, die Vernachlässigung der Gesundheit und die Unterdrückung von Wut, Trauer oder Angst. Viele Flüchtlingskinder lernten, nicht aufzufallen und sich mit einer Position in der zweiten Reihe zufrieden zu geben. Zum intergenerativen Transfer von typischen Verhaltensweisen gehört auch, viel leisten zu müssen, damit die Eltern oder Großeltern zurückerhalten, was sie gezwungenermaßen verloren haben, oder damit man in der Ankunftsgesellschaft akzeptiert wird: Überanpassung durch Leistung. Daneben gilt, sich für Recht und Ordnung einzusetzen, nie wieder Opfer zu sein oder in einer neuen Umgebung nicht zum Außenseiter zu werden.

Eigene Migrationserfahrungen und die Flüchtlingsdebatte heute

Solche Verhaltensweisen zeigen die Langzeitwirkung historischer Erfahrungen. Die Migrationsgeschichte der deutschen Vertriebenen ist mental noch nicht abgeschlossen. Das führt zu der abschließenden Frage, ob dies auch Folgen für die aktuelle Migrationsdebatte hat. Wirkt die Vergangenheit also an diesem Punkt ebenfalls nach? Immerhin gibt es neben Unterschieden19 auch Parallelen zwischen den damaligen und den heutigen Flüchtlingen, wie die unfreiwillige Migration aus einer Kriegssituation heraus, die mentalitätsmäßigen Differenzen zur einheimischen Bevölkerung und deren manchmal abweisende Haltung, die Trennung von Familien, den mit der Flucht verbundenen sozialen Abstieg oder traumatische Erlebnisse.
Im politischen Diskurs wird auf solche Gemeinsamkeiten und die daraus entstehende besondere Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen verwiesen. So verband Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede am 20. Juni 2015 anlässlich des Gedenktags für die Deutschen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren haben, deren Erfahrungen ausdrücklich mit der aktuellen Flüchtlingssituation:

„Auf eine ganz existenzielle Weise gehören sie nämlich zusammen – die Schicksale von damals und die Schicksale von heute, die Trauer und die Erwartungen von damals und die Ängste und die Zukunftshoffnungen von heute. Ich wünschte, die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen.“

Gleiches sollte gemäß dem Bundespräsidenten auch andersherum gelten: Die Erfahrungen von Heimatvertriebenen, die in der nationalen Gedenkkultur lange keinen Platz hatten, könnten im Licht der aktuellen Geschehnisse neu bewertet werden.
Die Verdrängung der deutschen Vertriebenengeschichte erkennt Gauck somit ausdrücklich an. Weil die Gefühle der Zwangsausgesiedelten auf wenig Verständnis bei den Heimatverbliebenen gestoßen seien, wurde ihr Schicksal nicht ernst genommen. Diese mangelnde Empathie ist eine Lehre der Vergangenheit für heute. Die damaligen Fehler sollten sich nicht wiederholen. Verständnis für Flüchtlinge und ihre oftmals schwierige Situation ist Voraussetzung für einen mitmenschlichen Umgang mit ihnen. Die zugelassene Erinnerung an das eigene Leid schärfe dabei das Bewusstsein für die aktuelle Not. Gleichzeitig erinnert der Bundespräsident an den positiven Beitrag, den die Vertriebenen zum Wiederaufbau Nachkriegsdeutschlands geleistet haben. Auch dies könne beispielhaft für den Neubeginn der heutigen Migranten sein.
Dieselbe Chance für Deutschland und dieselbe Verbindung der Geschichte mit der aktuellen Migration sehen auch die Vertriebenenverbände. Sie folgern daraus eine besondere Verantwortung für die Menschen, die heute gezwungenermaßen Sicherheit und eine Heimstätte suchen. Die aus der „gemeinsamen Erfahrung von Entwurzelung resultierende Empathie der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge und ihrer Nachkommen gegenüber den heute hier ankommenden Vertreibungsopfern bewirkt ein besonderes Engagement bei deren Ankunft und für deren Aufnahme in unserem Land und in unserer Gesellschaft“, so Bernd Fabritius, Präsident des Bundes der Vertriebenen20. Auch er zieht eine Linie von den eigenen Migrationserfahrungen zu den heutigen Herausforderungen: Es gibt als gemeinsame Basis dasselbe Schicksal.
Gleichzeitig wehrt sich Fabritius gegen eine allzu schnelle Gleichsetzung, indem er auf die kulturellen Differenzen zwischen den heutigen Migranten und der Aufnahmegesellschaft verweist – im Gegensatz zur damaligen Situation21. Diese These lässt sich nach unserer historischen Skizze zur Integration der deutschen Heimatvertriebenen relativieren. Trotz dieser, offensichtlich politisch motivierten Einschränkung bleibt Fabritius’ Hauptargument: Die eigenen Flucht- und Integrationserlebnisse nötigen zu einer besonderen Empathie und Verantwortung gegenüber Migranten.
Im politischen Diskurs wird somit eine positive Verbindung zwischen unmittelbaren oder über einen intergenerativen Transfer vermittelten Migrationserfahrungen und den gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen der Gegenwart gezogen. Das erinnert stark an den im Titel zitierten biblischen Begründungszusammenhang. Damit ist die Frage allerdings noch nicht beantwortet, ob die Wirklichkeit diese positive Wechselwirkung in der Tat zeigt.
Es gibt kaum eine empirische Studie direkt zur Haltung von deutschen Heimatvertriebenen und ihren Nachkommen zu den heutigen Migranten. Nur in der EFA-Untersuchung zu den Motiven von Menschen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagieren, ist dieser Aspekt berücksichtigt. Allerdings besteht nach den Ergebnissen dieser explorativen Umfrage

„kein enger Zusammenhang zwischen eigenen bzw. familiären Erfahrungen von Vertreibung oder Zwangsmigration und Einstellungen gegenüber Flüchtlingen bzw. Fluchtgründen. Gleich, ob die Befragten angaben, in ihrer Familie ‚Vertriebene‘ zu haben oder sonstige Erfahrungen von erzwungener Migration: Die Aussagen unterschieden sich kaum von denjenigen, die einen solchen Hintergrund nicht angegeben haben.“22

Grundsätzlich ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe in Deutschland allerdings höher als bei anderen Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements23.

Willkommenskultur – kollektive Traumata – Ressentiments

Im SVR-Integrationsbarometer 2016 kommt die Gruppe der Aussiedler bzw. der Spätaussiedler in den Blick24. Auffällig ist, dass sie kritischer gegenüber Asylbewerbern ist als Bürger ohne oder mit einem andersartigen Migrationshintergrund. So hat diese Gruppe zum Beispiel die meisten Vorbehalte gegenüber Integrationsmaßnahmen für Flüchtlinge. 9,8 bzw. 17,6 Prozent von ihnen stimmten der Aussage „voll und ganz zu“ bzw. „eher zu“, dass man keine Asylbewerber als Nachbarn wünsche, gegenüber 9,1 bzw. 12,8 Prozent der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Eine ähnliche Tendenz gibt es bei den anderen Items der Umfrage. Dort zeigt sich außerdem, dass Befragte mit einem anderen Migrationshintergrund als der Spätaussiedlung ebenfalls negativer über Integration urteilen. Allerdings relativieren sich solche Differenzen zu den Befragten ohne Migrationshintergrund, wenn man sowohl das Bildungsniveau als auch die wirtschaftliche Lage mit berücksichtigt.
In anderen Studien zu den Einstellungen gegenüber Flüchtlingen wird der Bezug zur deutschen Nachkriegsgeschichte nicht ausdrücklich hergestellt. Wohl gibt es auch hier die Frage, ob ein eigener Integrationshintergrund eine bestimmte Haltung bedingt. Es zeigt sich, dass Befragte mit einer Migrationsgeschichte eine Willkommenskultur in Deutschland stärker befürworten, auch wenn hierbei wie in der Gesamtbevölkerung in letzter Zeit ein deutlicher Rückgang festzustellen ist25. Dagegen bestehen Alteingesessene sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund gleichermaßen auf ihren Vorrechten gegenüber den Neuankömmlingen, was maßgeblich für eine ablehnende Haltung ist. Daneben sind auch die Hürden höher geworden, die die Bevölkerung den Migranten für eine Zugehörigkeit im Ankunftsland stellt. So fordern Bürger mit Migrationshintergrund von den Neuankömmlingen zum Beispiel, dass sie die deutschen Werte und Traditionen anerkennen („Stimme zu“: 83,6 %) oder sich aktiv für die Allgemeinheit einsetzen (85,7 %), gegenüber 79,4 bzw. 77,1 Prozent der Deutschen ohne Migrationshintergrund. In der Einstellung gegenüber Flüchtlingen und den Einschätzungen der Fluchtgründe gibt es dagegen kaum Differenzen zwischen beiden Gruppen.
Insgesamt zeigen diese Untersuchungen neben der Bereitschaft zu tatkräftiger Hilfe und Offenheit vor allem eine ambivalente Haltung gegenüber Migranten, die zudem in den letzten Jahren nach den zahlenmäßig hohen Zuwanderungen negativer geworden ist. Weniger eindeutig ließ sich unsere spezielle Frage beantworten, welchen Einfluss eine Vertriebenengeschichte bzw. mehr allgemein ein Migrationshintergrund auf die Einstellung gegenüber den heutigen Flüchtlingen hat. Wenn überhaupt, so gibt es hierdurch nur geringe positive Effekte. Das dämpft die hohen Erwartungen, die in der aktuellen Migrationsdebatte unter Verweis auf die deutsche Vertriebenengeschichte formuliert werden.
Wenn wir allerdings unsere Analyse des intergenerativen Transfers der Zwangsaussiedlung seit der Nachkriegszeit mit berücksichtigen, dann ist dieses Ergebnis nicht überraschend. Offenbar kann es aufgrund von persönlichen oder familiären Migrationserfahrungen ein besonderes Verständnis für und Mitgefühl mit Flüchtlingen geben, verbunden mit der Bereitschaft zur Solidarität. Andererseits ist auch das genau entgegengesetzte Verhaltensmuster plausibel, nämlich da, wo es um belastende Erinnerungen an die eigene Flucht geht und diese nur unzureichend bearbeitet werden konnten. Wir sahen, dass die hiermit verbundenen Abwehrmechanismen an die folgenden Generationen weitergegeben worden sind. Durch die heutigen Flüchtlinge werden diese Menschen an die nicht integrierten Erlebnisse der Vertreibung erinnert und das kann Überfremdungs- und Angstgefühle zur Folge haben. Gerade unverarbeitete kollektive Traumata können sich als Ressentiments niederschlagen. Hier besteht die Aufgabe, zunächst die Bewältigung solcher Erinnerungen zu ermöglichen. Ich habe darauf hingewiesen, dass dies eine bleibende, vielleicht die letzte Funktion der Vertriebenenseelsorge der Kirchen ist.
Die Antwort auf unsere Ausgangsfrage ist somit ambivalent. Die Geschichte der Vertreibung kann sowohl Empathie und Solidarität mit den heutigen Migranten motivieren, worauf insbesondere der politische Diskurs abhebt, als auch eine noch immer unbearbeitete historische Last sein, die beides gerade erschwert. Dieses Ergebnis wirft ein eigenes Licht auf unser Titelzitat zum Gebot der Fremdenliebe und seine befreiungsgeschichtliche Grundlegung: Ihr seid selber Fremde in Ägypten gewesen. Es ist zu vermuten, dass sich darin ähnlich wie in der aktuellen Migrationsdebatte nicht das ständige Bewusstsein im damaligen Israel und die identitätsstiftende Erinnerung an die eigene Flucht und Befreiung ausdrücken, sondern dass eine ethische Forderung erhoben wird, der sich jede Generation erneut stellen muss(te).

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