„Ich will ein Kopftuch tragen“

Was noch vor 50 Jahren in vielen Dörfern für ältere Frauen selbstverständlich war, scheidet heute die Geister: Der Streit um das Kopftuch ist eine Never-ending-Story über Unterdrückung von Weiblichkeit, Religionsfreiheit und staatlichem Neutraliätsgebot. Da kann frau auch mal ihre Meinung ändern.

Kürzlich wurde ich in einem Interview gefragt, ob ich schon mal meine Meinung geändert hätte. Ja, das ist so. Ich finde es wichtig, das zu können. Wer stur auf einem Standpunkt beharrt, ist nicht mehr offen für Neues, nicht lernfähig.

Als vor Jahren die Frage aufkam, ob eine Lehrerin mit Kopftuch unterrichten könne, war ich strikt dagegen. Mein Argument war, dass ich nicht wolle, dass meine Töchter ein Vorbild hätten, das als Frau unterdrückt sei, die eigenen Haare nicht zeigen dürfe. Inzwischen hat sich meine Position geändert. Und das liegt an Begegnungen wie einem Abendessen auf Einladung einer Nachbarin in Berlin im Rahmen des Programms „Speisen für Waisen“. Das Foto auf dem Cover zeigt den vergnüglichen Abend zusammen. Der junge Mann rechts ist übrigens Rabbiner. Wir haben über das Kopftuch gesprochen und die Gastgeberin sagte, sie sei alleinerziehend, da sei weit und breit kein Mann, der sie zum Kopftuch zwinge. Sie wolle es tragen als Ausdruck ihrer Religion und Kultur. Wenig später habe ich eine junge Aktivistin kennengelernt, sehr energisch in ihren „linken“ Ansichten – mit Kopftuch. Sie trägt es fast aus Protest, weil sie sich derart darüber ärgert, wegen einer Äußerlichkeit in einen Topf voller Vorurteile geworfen zu werden.

Ich bin mein Leben lang für Frauenrechte eingetreten. Die Unterdrückung von Frauen in vielen Teilen der arabischen Welt finde ich furchtbar. Den Sexismus in vielen Teilen der westlichen Welt ebenso. Es ist für mich untragbar, wenn Frauen gezwungen werden, sich zu verschleiern. Ich will nicht nur Augenschlitze sehen, sondern ein Gesicht. Genau das belastet uns doch in Coronazeiten, dass wir die jeweilige Mimik nicht erkennen.

Aber ein Kopftuch? Als ich junge Pfarrerin war, gingen die Frauen, die aus Russland im Rahmen der „Spätaussiedlerprogramme“ nach Deutschland gekommen waren, stets mit Kopftuch zur Kirche. Sie waren das so gewohnt, es war ihre Tradition. Sie hatte sich gebildet, weil im 1. Korintherbrief steht: „Jede Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt.“ (11,5) Es geht mir hier nicht um die Exegese, in der viel über diese Stelle diskutiert wird. Es geht mir darum, dass vielerorts ein Kopftuch zu tragen Tradition war.

Heute setzen wir ein Kopftuch mit Unterdrückung gleich. Ich stimme mit Alice Schwarzer in vielem überein, aber das ist zu einfach. Natürlich ist es Unterdrückung, wenn im Iran eine selbsternannte „Sittenpolizei“ Frauen zwingt, ein Kopftuch zu tragen oder wenn es Eltern oder Brüder tun. Aber eine Frau muss auch das Recht und die Freiheit haben zu sagen: „Ich will ein Kopftuch tragen“, ohne dass andere wie ich ihr erklären, das zeige, sie sei unfrei. Das hieße ja, mit großer Arroganz weiß ich mehr über sie als sie selbst. Ich spreche ihr damit eigene Entscheidungsfähigkeit ab, und das genau ist Paternalismus.

Kurzum: In einem freien vielfältigen Land haben Frauen die Freiheit, sich die Haare zu scheren, sie lila zu färben, einen Turban zu tragen oder eben ein Kopftuch. Solange es ihre freie Entscheidung ist, spricht nichts dagegen. Ich freue mich an der stets gut geschminkten, toll aussehenden jungen Frau an der Supermarktkasse, die stolz ihr Kopftuch trägt, erhobenen Hauptes. Und ich denke an Audrey Hepburn, von der es viele Bilder mit Kopftuch gibt, auf denen sie großartig aussieht...

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