IslamGastgeber und Gäste können Freunde werden

Was macht eine Nation aus, was eine Kultur, eine Wertegemeinschaft? Als der damalige Bundespräsident Christian Wulff davon sprach, dass der Islam zu Deutschland gehört, wurde er dafür scharf kritisiert, auch wenn unübersehbar mehr als vier Millionen Muslime in Deutschland leben.

Gastgeber und Gäste können Freunde werden
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"Übt Gastfreundschaft!“, fordert Paulus im Römerbrief (12,13) die christliche Gemeinde auf. Gastfreundschaft ist ein gutes Bild für die Begegnung, das Miteinander verschiedener, ja einander fremder Menschen, weil sie ein Beziehungsgeschehen auslöst, bei dem von Gastgebenden wie Fremden respektvoller Umgang miteinander erwartet wird. In einer globalisierten Welt, in der die in Corona-Zeiten notwendige Abschottung gerade nicht das Ziel ist, sondern ein Öffnen von Grenzen, Freiheit und Mobilität, wird sich auch die deutsche Gesellschaft den Herausforderungen des Zusammenlebens Verschiedener nicht entziehen können. Statt das zu beklagen oder Horrorszenarien zu entwerfen, statt Probleme und Konflikte kleinzureden, statt Abschottung und Angst zu schüren, statt puren Idealismus oder auch Wegschauen wird es darum gehen müssen, Konzepte von gelingendem Miteinander der Verschiedenen zu entwerfen.

Fremd bleiben oder anpassen, integrieren oder okkupieren, abgrenzen oder assimilieren, das Eigene und das Andere – das sind Spannungen, die die Bibel auf faszinierende Weise durchbuchstabiert. So haben etwa die Gefangenen in Babylon Heimweh nach Jerusalem. Der Prophet Jeremia rät ihnen in einem Trostbrief, sich nicht zurückzusehnen, sondern dort, wo sie nun einmal sind, Familien zu gründen, Bäume zu pflanzen und Häuser zu bauen. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus wird das jüdische Volk seine Heimat in Israel, in Jerusalem verlieren. Und Jüdinnen und Juden in aller Welt fragen sich seitdem: Was bedeutet mein Jüdischsein in der Fremde, in Argentinien oder den USA, in Frankreich oder Indien, im Libanon oder in Kenia? Wie sehr kann ich mich anpassen, wo muss ich mich abgrenzen? Viele Juden fühlten sich Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland integriert. Sie hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft, waren religiös säkularisiert oder waren gar zum Christentum übergetreten. Aber auf einmal wurde die Fremdzuschreibung von außen stärker als die selbst empfundene Integration. Sie wurden nicht zuallererst als Deutsche gesehen, sondern als Juden, weil andere definierten, was sie angeblich primär ausmachte.

Auch das Neue Testament ist vertraut mit Migrationsgeschichten und der Frage nach Gastfreundlichkeit. Weise Männer aus dem fernen Morgenland machen sich auf nach Bethlehem in die Fremde, um einen König zu suchen, so erzählt es das Matthäusevangelium. Sie bringen beachtliche Gastgeschenke mit und werden freundlich von den durchaus erstaunten frisch gebackenen Eltern aufgenommen. Nach Matthäus muss schon Joseph mit Maria und dem neugeborenen Jesus nach Ägypten fliehen. Wie es ihnen dort ging in der Fremde, wissen wir nicht. Aber sie erinnern doch stark an Familien mit Kindern, die heute fliehen und nicht willkommen sind in aller Welt. Jesus rät denen, die er aussendet, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie nicht freundlich aufgenommen werden. Das heißt, sie sollen dort nicht bleiben, sondern sich aufmachen zu gastfreundlicheren Orten.

Es dauerte lange, bis deutlich wurde, dass der christliche Glaube ein weites Herz hat für Inkulturation, die nachbarschaftliche Beheimatung von Menschen verschiedener Herkunft. Verwurzelt sich der christliche Glaube in einer Kultur, zeigt er ja eine ungeheure Integrationskraft. Ich fühle mich als Christin in einer Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, die kulturelle, nationale und ethnische Grenzen überschreitet. Fast zwanzig Jahre war ich Mitglied in leitenden Gremien des Ökumenischen Rates der Kirchen. Bei Besuchen von Kirchen in aller Welt habe ich mich nie als Fremde gefühlt, als eine, die von außen kommt, sondern als „Teil der Familie“, die eben Brot und Wein teilt an einem Tisch, an dem Sorgen und Freuden miteinander ausgetauscht werden. Grundlage ist der über Grenzen hinweg verbindende Glaube. Ein Stichwort wie „Petrus“ oder „Gethsemane“ genügt, um einen gemeinsamen Ansatzpunkt zu finden.

Zuverlässigkeit, Umgänglichkeit und Geselligkeit sind Eigenschaften, die oft in den Deutschen gesehen werden: Das ist positiv zu sehen und da hat es gewiss seit 1945 gute Entwicklungen gegeben. Wir könnten uns unserer Werte in einem angemessenen Maße bewusst sein, um anderen zu sagen: Herzlich willkommen in diesem Land! Selbstbewusstsein ermöglicht es, anderen offen gegenüberzutreten, sie gastfrei einzuladen und auch von der Verschiedenheit zu profitieren, sie als anregend zu verstehen und nicht als Bedrohung.

An einem Volkstrauertag in Hannover habe ich erlebt, wie ein junger Mann, der türkischer Abstammung war, in der Zeremonie den Kranz für die gefallenen deutschen Soldaten ablegte. Das hat mich sehr berührt. In den Reden war vom Ersten und Zweiten Weltkrieg, vom Holocaust und vom Neuanfang, von Frieden und Versöhnung die Rede. In vollem Bewusstsein hat der junge Mann das offensichtlich als seine Geschichte wahrgenommen. Ein Deutscher also, der zu seiner Geschichte steht, auch wenn seine Vorfahren nicht in Deutschland lebten, als diese Geschichte sich abspielte.

Mir macht die Verschiedenheit keine Angst. Ich möchte sie mit anderen konstruktiv gestalten. Dabei verschließe ich nicht die Augen davor, dass es Gewalt gibt gegen Frauen, Perspektivlosigkeit von Jugendlichen, religiösen Fanatismus. Doch all das darf ja nicht zur Resignation führen, sondern wird für mich immer Herausforderung sein, mich als Christin und Deutsche von meiner Herkunft her mit anderen, die Juden oder Muslime oder Buddhisten sind aus Israel oder Russland, Iran oder der Türkei, aus Argentinien oder Indien stammen, einzusetzen für ein gewaltfreies Miteinander auf der Grundlage von Recht und Gesetz, mit Religions- und Meinungsfreiheit in UNSEREM Land.

Erinnert sei noch einmal an den Hebräerbrief, indem es heißt: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ (13,2) Das Gebot der Gastfreundschaft kann sich als enorme Lebensbereicherung entpuppen. Gastgeber und Gäste können Freunde werden, nicht immer, aber durchaus oft.

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