Lähmendes Gift: Depression

Die Welt wird grau, die Zukunft diffus, jeder Handgriff, jeder Schritt kosten größte Überwindung. In unserer Gesellschaft leiden sehr viele Menschen an der Krankheit Depression. Und oft schämen sie sich und sprechen nicht von ihrem Leiden. Aber Depression kann behandelt und geheilt werden.

Lähmendes Gift: Depressionen
© Engin Akyurt, pexels

Manchmal ist zu erleben, wie jemand fast vor unseren Augen die Fähigkeit verliert, sich zu freuen, irgendwie keine Energie mehr hat, ständig in gedrückter Stimmung zu sein scheint. Da hilft dann kein „Kopf hoch!“ oder „Wird schon wieder!“. Depression ist eine Krankheit. Für Menschen, die darunter leiden, ist es oft sehr schwer, Verständnis zu finden. Wer an Krebs erkrankt, begegnet Mitgefühl. Wer an Depression erkrankt, dem wird oft unterstellt, irgendwie sei er oder sie selbst schuld.

Mehr als jede zehnte Frau – 11,3 Prozent – in Deutschland leidet unter Depressionen. Männer deutlich weniger – 5,1 Prozent. Insgesamt sind das 5,3 Millionen Menschen in unserem Land! Ich finde, wir sollten mehr darüber sprechen, was es bedeutet, depressiv zu werden. Denn wenn früh erkannt wird, dass es eine Erkrankung gibt, kann auch früh Hilfe geholt werden. Viel zu viele Menschen denken, das ist ein Stimmungstief, das geht vorbei. Oder andere sagen: „Reiß dich einfach mal zusammen!“ Dann erscheint eine Depression als eine Art Schwäche, die du lieber nicht zugeben willst. Aber es ist eine Krankheit, und die kann und muss behandelt werden.

Eine Frau erzählte mir, es sei ihr zu allem Druck auch noch peinlich gewesen, überhaupt solche Gedanken zu haben. Sie habe sich geschämt und mit niemandem darüber gesprochen. Erst als sie in einem Artikel las, dass es Hilfe gibt, eine Therapie keine Schande ist und auch medikamentöse Hilfe möglich ist, hatte sie die Kraft, sich ihrer Ärztin anzuvertrauen.

Warum können wir als Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen so viel schwerer umgehen als mit physischen, frage ich mich. Weil wir gern alles im Griff hätten: Hier das Problem, da die Lösung? Weil wir so ungeduldig sind und psychische Prozesse Zeit brauchen?

Zudem haben zwischen 40 und 70 Prozent aller depressiv Erkrankten suizidale Gedanken. 90 Prozent aller Menschen, die sich das Leben nehmen, leiden an einer psychischen Erkrankung, meist an einer Depression. Auch hier scheint mir wichtig, zuallererst darüber zu sprechen, diese Gedanken nicht zum Tabu zu machen. Wenn es Menschen möglich ist, sich über ihre Frage mit anderen auszutauschen, ob das Leben so oder überhaupt für sie noch Sinn macht, ist das schon ein erster Schritt zur Hilfe.

Als Pfarrerin war ich oft zornig mit Menschen, die sich das Leben genommen hatten. (Wenn heute gesagt wird, sie haben sich suizidiert, soll das vielleicht irgendwie distanzierter klingen.) Ich habe erlebt, wie tief der Schock saß für die Angehörigen, den Freundeskreis, das berufliche Umfeld. Da sind stets heftige Schuldzuweisungen: Ich hätte das verhindern müssen. Was hätte ich tun sollen, damit er sich das nicht antut? Haben wir sie nicht aufmerksam genug wahrgenommen mit ihren Lebensfragen? Diese Menschen kann vielleicht trösten, dass Ärztinnen und Ärzte sagen, wer sich wirklich umbringen will, tut es auch. Wer darüber spricht, dass er oder sie solche Gedanken hat, sucht eher Hilfe. Wer an einer schweren Depression leidet, findet auch nicht mehr die Kraft, die Folgen des eigenen Handelns für andere, auch für Menschen, die er liebt, in den Blick zu nehmen. Da sind die Schatten dann so dunkel geworden, dass kein Lichtstrahl mehr hineinkommt.

In dem Luther lm von 2003 mit Joseph Finies in der Hauptrolle beerdigt der Reformator heimlich auf dem kirchlichen Friedhof einen jungen Mann, der sich das Leben genommen hat. Die Szene steht meines Erachtens theologisch für das, was mit „Rechtfertigung allein aus Glauben“ gemeint ist. Nicht deine Taten und Leistungen im Leben sind entscheidend, sondern Gottes Ja zu dir, das vor allem anderen steht. Es war in der Tat eine traurige und nicht von Nächstenliebe geprägte Tradition, dass jahrhundertelang Menschen, die sich selbst getötet hatten, nicht auf kirchlichen Friedhöfen bestattet wurden. Zu allem Leid kam für die Angehörigen auch noch dazu, dass ihre Lieben im Tod ausgegrenzt, geächtet wurden. Auch wenn es den Hinterbliebenen furchtbar schwer fällt zu akzeptieren, dass ein anderer sich das Leben genommen und so viel Schmerz zugefügt hat, bleibt doch die Liebe größer als der Zorn, hoffe ich. Es gilt, damit leben zu lernen.

Für mich war Teresa Enke darin ein großes Vorbild, die, nachdem ihr Mann, der Nationaltorhüter Robert Enke, sich vor einen Zug geworfen hatte, sagte, sie habe gedacht, die Depression ihres Mannes gemeinsam, mit der Kraft ihrer Liebe zueinander bewältigen zu können. Ihr Mann hatte sie in einem Abschiedsbrief um Verzeihung gebeten. Er hatte seine Depression verheimlicht und stationäre Behandlung abgelehnt aus Angst vor der Öffentlichkeit, insbesondere der Fußballwelt, die starke, unangreifbare Helden sehen will. Und aus Angst, das Sorgerecht für ihre kleine Adoptivtochter zu verlieren. Das ist jetzt bald 11 Jahre her. Ich hoffe, wir haben gelernt, mehr über Depressionen und Suizidgedanken zu sprechen, beides nicht als Schwäche anzusehen. Und dass Menschen wissen: Ich kann Hilfe finden!

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