LebensthemaSehnsucht weitet das Herz

In allem kann der Mensch lügen. In alles kann sich etwas Unechtes und Falsches einschleichen. Liebe kann geheuchelt sein. Die Höflichkeit nur anerzogen. Das Helfen kann aus egoistischen Motiven erfolgen. Aber bei der Sehnsucht kann der Mensch nicht manipulieren. Ernst Bloch hat in einem Interview zu seinem 90. Geburtstag gesagt: „Ich habe in meinem Leben herausgefunden, dass die Sehnsucht die einzig ehrliche Eigenschaft des Menschen ist.“ Der Mensch ist seine Sehnsucht. Die Sehnsucht bringt uns in Berührung mit dem Potential, das in unserer Seele verborgen liegt.

Sehnsucht weitet das Herz
Ich traue meiner Sehnsucht nach Liebe und lasse mich von ihr in die Lebendigkeit führen.© frankie's - fotolia.com

Lieben und geliebt werden

Das lateinische Wort „desiderium“ beinhaltet „sidera = die Sterne“. Für die Lateiner bedeutet Sehnsucht also, die Sterne auf die Erde zu bringen, die Sterne in die eigene Seele zu holen. Im Wort „desiderium“ schwingt die Weite und Offenheit der Seele mit, die sich hingezogen fühlt zu den Sternen. Das deutsche Wort „Sehnsucht“ meint ein Sehnen, das letztlich über die Welt hinausgeht. Für den hl. Augustinus ist die Sehnsucht ein Grundexistential: Jeder Mensch sehnt sich im Grunde nach dauerhafter Geborgenheit, nach unendlicher Liebe, nach wahrer Heimat, nach absoluter Echtheit und Freiheit. Wenn wir mit allen Kräften nach Reichtum aus sind, so wird der Besitz unsere Sehnsucht nicht erfüllen. In der Suche nach Reichtum steckt die Sehnsucht, dass wir endlich zur Ruhe kommen können. Aber das Fatale ist, dass der Besitz uns besessen macht, dass er uns noch mehr in die Unruhe treibt. Wenn wir nach Erfolg streben, so steckt dahinter letztlich die Sehnsucht, wertvoll zu sein. Aber wir wissen zugleich, dass kein Erfolg unsere Sehnsucht zu stillen vermag. Wir erfahren unseren göttlichen Wert erst in Gott. Jeder Mensch sehnt sich im Grunde danach, geliebt zu werden und selber zu lieben. Wir brauchen nur in der Zeitung zu lesen, um zu entdecken, wie viele solcher Sehnsüchte unbefriedigt bleiben oder in Einsamkeit und Verzweiflung enden. Aber dennoch steckt in jeder kleinen Liebe, auch in der ganz und gar sexuellen Liebe eine Sehnsucht nach absoluter Liebe, die Sehnsucht nach Gott. Augustinus hat das in seinem berühmten Wort so ausgedrückt: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir, mein Gott.“ Der Mensch ist erfüllt von einem unstillbaren Hunger: Auch wenn nach außen hin das menschliche Verlangen auf andere Ziele geht, so ist das letzte Ziel immer Gott. Selbst bei Menschen, die sich von Gott abgewandt haben, pocht eine Sehnsucht nach mehr, nach dem ganz anderen, nach dem, der allein genügt.

Zur Ruhe kommen

Das Fatale ist, dass Menschen, die alles erreicht haben, wonach sie sich äußerlich sehnen, oft von einem Gefühl innerer Leere heimgesucht werden. „Der eine mag zum Fußballer des Jahres ernannt werden, der andere summa cum laude promovieren, das Herz des perfekten Partners gewinnen oder so viel Geld verdienen, dass er oder sie den schon immer erstrebten Lebensstil finanzieren kann.“ So hat es die Psychologin Christina Grof ausgedrückt und festgestellt: Inmitten all der Fülle bleibt die innere Leere, und die Sehnsucht nach etwas ganz anderem wird sogar noch größer. Nichts Irdisches, kein Erfolg, kein geliebter Mensch kann unsere innere Unruhe beruhigen. Augustinus hat Recht: Wir werden erst zur Ruhe kommen, wenn wir unsere Sehnsucht auf Gott richten, wenn wir Gott in uns finden als die innere Quelle, die nie versiegt, als die Geborgenheit und Heimat, aus der wir nie herausgeworfen werden, als die Liebe, die sich nie auflöst und uns nicht zwischen den Fingern zerrinnt. Die Liebe ist immer schon mit Sehnsucht verbunden. Es gibt keine Liebe ohne Sehnsucht. Gerade die Sehnsuchtsspannung macht die Liebe wertvoll und erfüllt sie mit einer unergründlichen Tiefe. Größtes Liebesglück und unsägliches Sehnsuchtsleid liegen eng nebeneinander. Die Liebe weist immer schon über sich hinaus. In ihr sehnen wir uns nach absoluter und bedingungsloser, letztlich nach göttlicher Liebe.

Erwartungen an andere loslassen

Mit der eigenen Sehnsucht in Berührung zu kommen, heißt nicht, vor der Realität unseres Lebens davonzulaufen. Im Gegenteil, wenn wir in uns spüren, dass in uns eine Sehnsucht nach Gott ist, nach etwas Weltjenseitigem, nach einem Ort, der diese Welt übersteigt, dann können wir uns aussöhnen mit der oft so banalen Wirklichkeit unseres Lebens. Dann sind wir nicht enttäuscht, wenn der von uns geliebte Mensch unsere tiefste Sehnsucht nach absoluter Liebe nicht erfüllen kann. Dann überfordern wir unseren Ehepartner nicht mit Erwartungen, die eigentlich nur Gott erfüllen können. Ich erlebe immer wieder, wie Menschen von dem, den sie lieben, erwarten, dass er sie heile, dass er sie erlöse und befreie und ihrem Leben letzten Sinn schenke. Aber das sind Erwartungen, die kein Mensch erfüllen kann. Die Sehnsucht relativiert unsere Erwartungen an Menschen, damit wir fähig werden, menschlich miteinander umzugehen, den anderen Menschen so zu lassen, wie er ist, anstatt ihn ständig mit Gott zu vergleichen, dem er nie entsprechen kann.

Meine Sehnsucht annehmen

Zu unserem Leben gehören Enttäuschungen, etwa in der Familie oder im Beruf. Wir sind von uns selbst enttäuscht. Wir haben uns Illusionen gemacht über uns und die anderen. Wir haben uns getäuscht. Ich erlebe bei vielen Menschen, dass sie nicht bei sich selbst sind, sondern bei den anderen, bei dem, was die von ihnen erwarten. Und weil sie meinen, sie müssten diese Erwartungen erfüllen, setzen sie sich selbst unter Druck. Viele weichen diesen Erkenntnissen lieber aus. Aber dann sind sie ständig auf der Flucht vor sich selbst. Dann kommen sie nie zur Ruhe. Wenn wir uns unserer Sehnsucht stellen, dann können wir uns damit aussöhnen, dass unser Beruf unsere Erwartungen nicht erfüllt. Dann sind wir einverstanden mit uns selbst, mit unseren Fehlern und Schwächen. Wir müssen uns selbst ja gar nicht genügen. Unsere Sehnsucht geht über unseren Beruf und über uns selbst hinaus. Sie relativiert alles, was wir hier tun. Dadurch befreit sie uns von dem verbissenen Streben nach immer mehr Erfolg und Anerkennung. Sie befreit uns von dem Druck, unter den wir uns oft genug selbst setzen. Die Sehnsucht bringt uns in Berührung mit uns selbst. Wenn ich meine Sehnsucht spüre, dann bin ich in meinem Herzen. Und dann haben die anderen mit ihrer Erwartung keine Macht über mich. Die Sehnsucht bewahrt mich davor, auf die Enttäuschungen meines Lebens mit Resignation zu reagieren. Im Gegenteil, die Enttäuschung hält meine Sehnsucht wach. Sie lässt das Herz weit werden, nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber den Menschen. Das weite Herz hat Raum für die Menschen. Das weite Herz verurteilt nicht. Es hat das Leben mit seinen Enttäuschungen und Desillusionierungen erfahren und ange nommen. Aber es hat sich nicht zusammengezogen. Für den Hl. Benedikt ist das weite Herz geradezu ein Zeichen für einen geistlichen Menschen: Nur dort, wo ich mich meiner Sehnsucht stelle, bin ich auf der Spur des Lebens, entdecke ich meine eigene Lebendigkeit. Und dort entdecke ich Gott. Spiritualität besteht für mich darin, der Spur meiner eigenen Lebendigkeit zu folgen, meiner Sehnsucht zu trauen und mich von ihr in die Weite und in die Freiheit, in die Liebe und in die Lebendigkeit führen zu lassen. Sucht dagegen ist immer verdrängte Sehnsucht. Die Adventszeit ist die Zeit, unsere Süchte wieder in Sehnsucht zu verwandeln.

Auch Gott sehnt sich nach mir

In den Exerzitien frage ich mich selbst und auch die Exerzitanten immer wieder: „Was ist deine tiefste Sehnsucht?“ Ich selbst kann diese Frage nicht immer sofort beantworten. Aber wenn ich mich dieser Frage stelle, dann fällt alles krampfhafte Suchen, mich selbst besser zu machen, weg. Vieles, was mir sonst Kopfzerbrechen bereitet, wird unwichtig. Ich komme in Berührung mit mir selbst, mit meinem Herzen, mit meiner eigenen Berufung. Wer bin ich eigentlich? Was ist meine Sendung? Welche Spur möchte ich eingraben in diese Welt? Was erfüllt mir meine Sehnsucht? Letztlich stoße ich dann immer auf Gott als das Ziel meiner Sehnsucht. Aber die Frage nach meiner tiefsten Sehnsucht führt mich nicht nur zu Gott, sondern auch zu meiner urpersönlichsten Antwort auf Gottes Sehn sucht nach mir. Auch Gott sehnt sich nach mir, so sagen uns die Mystiker. Mechthild von Magdeburg spricht Gott an: „O Du brennender Gott in Deiner Sehnsucht!“ Gott sehnt sich danach, den Menschen zu lieben. Wenn ich mich nach meiner tiefsten Sehnsucht frage, dann entdecke ich, wie ich auf Gottes Sehnsucht nach mir, wie ich auf Gottes Liebe zu mir antworten möchte. Meine tiefste Sehnsucht besteht darin, ganz und gar durchlässig zu werden für Gottes Liebe und Güte, für Gottes Barmherzigkeit und Milde, ohne Verfälschungen durch meinen Egoismus, ohne Verdunkelungen durch meine Bedürfnisse nach Anerkennung und Erfolg: „Lauterkeit“, „Reinheit des Herzens“, haben das die frühen Mönche genannt.

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