Was wollen uns unsere Depressionen sagen?Höre auf die Dame in Schwarz

Von C. G. Jung soll die Aussage stammen, die Depression sei einer Dame in Schwarz vergleichbar. Trete sie auf, empfiehlt er, sie nicht wegzuschicken, sondern sie als Gast zu Tisch zu bitten und zu hören, was sie zu sagen hat. Diese Aussage des Tiefenpsychologen erinnert an die Spiritualität von unten, die uns auffordert, in unseren Gedanken und Gefühlen, in unserer Leidenschaft und unseren Bedürfnissen zu versuchen, Gottes Stimme zu hören.

Fazit

Die Depression ist einer Dame in Schwarz vergleichbar, die uns etwas mitteilen will. Einmal mag sie uns sagen, dass wir in unserem Leben eine andere Richtung einschlagen sollten. Ein anderes Mal will sie uns auf den Boden der Wirklichkeit herunterholen oder uns an unsere Menschlichkeit erinnern, zu der auch gehört, dass wir unvollkommen sind und Fehler machen. Wir sollten uns daher zugestehen, manchmal auch depressiv gestimmt oder depressiv zu sein, und das nicht von vorneherein als etwas Negatives, gar Verwerfliches betrachten. Wenn wir auf sie hören, kann sich die Depression manchmal sogar als Freund erweisen.  

Diese Seite der Depression wird oft vernachlässigt. Ich kann das gut verstehen. Wer will nicht, wenn ihn eine Depression heimsucht, sie möglichst schnell wieder loswerden. Auch ich erachte es aus der Sicht des Psychotherapeuten für richtig und wichtig, eine Depression zunächst von einer medizinischen Betrachtungsweise her zu sehen, die in ihr eine psychische Krankheit sieht. Ist das geschehen und hat man alles unternommen, was an medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung möglich ist, sollte man aber dazu bereit sein, in manchen depressiven Erfahrungen wichtige Botschaften unserer Seele zu sehen und zu entdecken.

So mag unsere Seele manchmal über die Depression signalisieren, dass etwas in unserem Leben nicht länger stimmt, wir etwas verändern müssen, wollen wir authentischer leben. Wenn wir einer solchen Sichtweise etwas abgewinnen können, werden wir die Depression nicht länger nur mit etwas Unangenehmem und Störendem verbinden, so sehr es weiter Mühe machen kann, so der Depressionsexperte Daniel Hell, „ das zweckvolle Element einer Depression zu würdigen“.
Wenn ich dafür plädiere, die Erfahrung von Depression für uns zu nutzen, bin ich mir bewusst, dass es Depressionserfahrungen gibt, die so niederdrückend sind, dass es für den, der darunter leidet, unmöglich ist, darin einen Sinn zu sehen oder eine Botschaft zu entdecken. Es gilt bei Depressionen zu unterscheiden „zwischen dem depressiven Grundmuster, das als Botschaft und als Schutzversuch angenommen werden kann, und einem schweren depressiven Leiden, das als Störung behandelt werden soll“ (Daniel Hell).
Mir geht es darum, Mut zu machen, ohne dabei den Einzelnen überfordern zu wollen, offen dafür zu sein, in manchen Depressionen die Stimme unserer Seele zu hören, zumindest dem immer wieder auch eine Chance zu geben. Denn überhören wir die Botschaften, die uns über unsere Depressionen mitgeteilt werden sollen, können die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, meiner Erfahrung nach letztlich unerträglicher für uns und unser Leben sein als das Aushalten der Depressionen.
Folgende Sufi-Geschichte verdeutlicht das: Ein Mann schläft unter einem Baum ein. Eine andere Person beobachtet, wie eine giftige Schlange in den Mund des schlafenden Mannes kriecht. Er läuft zu dem Schlafenden hin und schlägt ihn, um ihn zum Wachen zu bringen und zu veranlassen, die Schlange zu beseitigen. Der Schmerz, der ihm durch das Schlagen zugefügt wird, weckt den schlafenden Mann auf, ohne dass er zunächst weiß, dass die Person, die ihn schlägt, versucht, ihm das Leben zu retten. So kann es sich auch mit einer Depression verhalten, wenn sie versucht, uns mitzuteilen, dass irgendetwas in unserem Leben nicht in Ordnung ist.
Wenn ich hier von Depression und der Bereitschaft spreche, auf ihre Botschaften zu hören, dann gilt das vor allem für die leichteren und mittelschweren Formen von Depressionen und Erfahrungen von Dunkelheit. Bei schweren Depressionen ist ein solcher Dialog in der Regel nicht möglich. Hier steht die Linderung der Depression, sei es durch Psychopharmaka, psychiatrische oder psychotherapeutische Gespräche, im Vordergrund.

Aufruf zur Korrektur und Umkehr

Depressionen gehen oft mit Lebenskrisen einher. Wir kennen das zum Beispiel von der Krise in der der Mitte des Lebens, wenn die Sonne unseres Lebens mit dem Abstieg begonnen hat. Der damit verbundene Abschied kann sehr schmerzvoll sein. Hier will die Depression uns oft sagen: So kann es in deinem Leben nicht mehr weitergehen.
Die Depression kann dann als Aufruf verstanden werden, genauer auf unser Leben zu schauen und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. Hier kann auch manchmal eine existentielle Schuld Anlass für eine Depression sein. Man spricht von existentieller Schuld, wenn ich nicht mein Leben lebe, die mir grundsätzlich gegebenen Möglichkeiten nicht nutze. Die existentielle Schuld, die sich in einer Depression niederschlägt, kann sich so gesehen als „eine positive, konstruktive Kraft, ein Führer, der uns zu uns selbst zurückführt“ (Irvin B. Yalom) erweisen. Die mit existentieller Schuld einhergehende Depression wird sich erst zurückziehen, wenn ich dem Ruf meines inneren Führers, zu mir selbst zu stehen, folge. Der Pastoralpsychologe Roy Fairchild, einer meiner Lehrer während meines Studiums in den USA, berichtet von folgendem Fall aus seiner Praxis:
Ein Seminarist, der drei Jahre lang studiert und sich in seinem Studium und Praktikum bewährt hatte, wurde in seinem letzten Semester von depressiven Stimmungen und Selbstmordgedanken heimgesucht. Er zog sich von seinen Freunden zurück, wurde apathisch und kam, was für ihn untypisch war, seiner Arbeit nicht mehr nach. Er klagte über Müdigkeit und Mutlosigkeit und suchte Rat bei einem Arzt. Der verschrieb ihm Antidepressiva. Er führte Beratungsgespräche, und nach einigen Sitzungen setzte er die Medikamente ab. Seine Träume nahmen zu. In einem lebhaften Traum wurde er von einer gebrechlichen Frau, die ihn überraschenderweise überwältigte, in eine Kiste gezwängt, die viel zu eng für ihn war. In der abgeschlossenen Kiste krümmte und wand er sich, bis er ein chinesisches Schloss fand, das er zu enträtseln vermochte. Es gelang ihm, die Kiste zu öffnen. Er kam auf eine breite Straße, die ein Feld mit wilden Blumen und kleinen Tieren durchquerte. Sehr schnell verstand er, dass der Traum die abgekapselte Situation symbolisierte, als die er den Pastorenberuf empfand. Sein Leben lang hatte ihm seine verwitwete Mutter den Pastorenberuf als heilige Berufung beschrieben. Sie hatte gehofft, dass er die Arbeit seines Vaters fortsetzen würde, der starb, als der Sohn zwölf Jahre alt war. In der Realität lebte er das Leben eines anderen, oder wie Jung es ausdrückte, den Mythos eines anderen. Der Traum besagte, dass er, falls er den richtigen Schlüssel finden würde, nicht in der Kiste bleiben müsse. Nachdem der junge Mann begriffen hatte, dass er die Freiheit der Wahl hatte und sich innerlich befreien konnte von dem Vorbild seines Vaters und dem verschlingenden Besitzergreifen seiner Mutter, verschwand seine Depression, und seine Energie konnte sich nach außen, auf ein produktives Leben hin ausrichten.

Die Depression will uns erden

Manchmal können Dunkle- Nacht-Erfahrungen, wie wir sie in einer Depression erleben, zum Ziel haben, uns zu erden. Ich erlebe das oft bei spirituellen Personen, bei kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die hohe Ideale haben oder alles hundertprozentig machen wollen. Die Depression mag sich einstellen, weil ihre Vorstellungen und Wünsche aufgrund der Gegebenheiten gar nicht erfüllt werden können und somit immer ein garstiger, unüberbrückbarer Graben bleibt zwischen dem, was sie wollen und dem, was sie tatsächlich erreichen. Sie müssen erfahren, dass sich trotz zusätzlichem Mühen der pastorale Erfolg nicht einstellt.
Wenn Seelsorger und Seelsorgerinnen eine Depression erfahren, sie die Lust und Freude an ihrer Arbeit verlieren, weil sie immer mehr den Eindruck gewinnen, erfolglos zu sein, kann ein Eingehen auf ihre Depression ihnen helfen, hellhöriger dafür zu werden, wo sie einfach überzogenen Vorstellungen von Seelsorge aufsitzen und die Depression sie dazu bringen möchte, die Realitäten ernster zu nehmen. Es liegt nicht oder zumindest nicht nur an ihnen, dass sie nicht den ersehnten Erfolg haben.
So kann die Erfahrung von Depression, wenn wir auf sie hören und entsprechende Konsequenzen daraus ziehen, sich als Segen, ja als Freund erweisen. Sie kann uns davor bewahren, in überzogene Vorstellungen über uns und unsere Möglichkeiten abzuheben. Sie will uns an unsere Menschlichkeit und Unzulänglichkeit erinnern. Hören wir auf das, was sie uns sagen möchte, werden wir vielleicht unter anderem als Antwort hören: Nimm dich nicht so wichtig. Du bist nicht für alles zuständig. Du machst Fehler und du darfst Fehler machen. Übersieh nicht das Gute und Schöne, das du jeden Tag tust.

Du bist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie jeder andere Mensch

Bei manchen Seelsorgern meldet sich die Depression oder eine depressive Stimmung zu einer Zeit, in der sie eigentlich endlich Zeit für sich hätten. Sie spüren eine Leere in sich, fühlen sich einsam und können nicht länger ihre unerfüllten Wünsche, zum Beispiel nach menschlicher Nähe und Wärme, durch Arbeit zudecken. Hört der Seelsorger darauf, was seine depressive Stimmung oder Depression ihm sagen möchten, wird er unter anderem als Antwort hören: Vergiss nie, dass du aus dem gleichen Holz geschnitzt bist wie jeder andere Mensch, du wie jeder anderen Mensch die Erfahrung von Zugehörigkeit und Liebe brauchst.
Das waren nur einige mögliche Botschaften, die uns manchmal Depressionen vermitteln möchten. Es gibt viele andere, die je nach Situation entsprechend ausfallen. Es ist nicht immer leicht, auf diese Weise Depressionen zu begegnen. Dennoch will ich Mut machen, wenn eine depressive Stimmung oder Depression in unserem Leben auftritt, sie nicht einfach nur als lästig zu erfahren, sondern in ihr eine Dame in Schwarz sehen, die uns etwas mitteilen möchte. Hören wir auf die Dame und ziehen wir die Konsequenzen aus ihren Botschaften, dann dürfen wir damit rechnen, dass die Dame sich von alleine zurückzieht.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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