Christentum ohne Wurzel?Warum das Alte Testament nicht aus dem christlichen Kanon herausgenommen werden darf

Der Vorschlag von Notger Slenczka, Inhaber des Lehrstuhls Systematische Theologie Dogmatik an der Humboldt-Universität zu Berlin, das Alte Testament aus der Bibel zu streichen, löste im Frühjahr 2015 eine heftige Debatte aus. Jan-Heiner Tück, Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Wien, untersucht die Argumente und ihre Konsequenzen.

Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.

Röm 11,18

In der Theologen-Zunft ist im Frühjahr 2015 ein heftiger Streit entbrannt. Schauplatz war die Evangelisch-Theologische Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Der dort lehrende systematische Theologe Notger Slenczka hatte im Marburger Jahrbuch für Theologie bereits 2013 einen Aufsatz mit dem Titel „Die Kirche und das Alte Testament“1 veröffentlicht, in dem er die provokante Empfehlung aussprach, das Alte Testament (AT) aus dem Kanon der Heiligen Schriften herauszunehmen und auf das Niveau von apokryphen Schriften herabzustufen2. Dieses Votum, das angesichts der neuen Wertschätzung des „Ersten Testaments“3 (Erich Zenger) in einer durch die Shoah sensibilisierten Theologie befremdet, ist zunächst weithin unbeachtet geblieben. Erst als der Präsident des Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland, Pfarrer Friedhelm Pieper, eine empörte Stellungnahme lancierte und Slenczka unverblümt Antijudaismus vorwarf, kam die Debatte ins Rollen, an der sich namhafte Religionsdeuter wie Jan Assmann, Micha Brumlik und Friedrich Wilhelm Graf beteiligten. Aus der Berliner Fakultät meldeten sich fünf Kollegen mit einer distanzierenden Stellungnahme, darunter Christoph Markschies, ehemaliger Präsident der Humboldt-Universität. Er hat die Thesen seines Kollegen in die Nähe einer „Nazi-Theologie“ gerückt und eine Podiumsdiskussion mit Slenczka mit dem Hinweis abgelehnt, über die Zugehörigkeit des AT zum Kanon müsse man heute ebenso wenig mehr streiten wie über die Frage, ob die Erde eine Scheibe sei.
Diese Reaktion ist scharf. Sie übergeht allerdings, dass Slenczkas Überlegungen Argumente geltend machen, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen muss, wenn man ein Wiederaufflackern der markionitischen Versuchung verhindern will4. Eines der Argumente nimmt auf die veränderte Diskussionslage der Theologie nach Auschwitz Bezug und weist darauf hin, dass das Textkorpus des AT zunächst und vor allem der „Fremdreligion“ des Judentums gehöre - und die Kirche mit der Aneignung und Übernahme des AT Gefahr laufe, das Judentum zu enteignen.
Ein zweites Argument bezieht sich auf die historisch-kritische Methode, welche die Bücher des AT in ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext zu lesen gelehrt hat. Eine allegorische oder typologische Lesart, die überall im AT Spuren auf Jesus Christus hin zu erkennen glaube, sei im Horizont der Moderne nicht mehr möglich oder zumindest legitimationsbedürftig. Faktisch habe die Bibelwissenschaft eine christologische Lesart des AT schon seit längerem aufgegeben.
Angesichts dieser Argumente, die Slenczka im Anschluss an Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack und Rudolf Bultmann differenziert entwickelt, scheint seine Schlussfolgerung einer Entkanonisierung des AT beinahe unausweichlich. Wer diese ruinöse Konsequenz vermeiden will, muss die leitenden Annahmen seiner Argumentation kritisch prüfen.

Antimarkionitische Weichenstellung

Slenczkas Vorstoß ist delikat, wenn man bedenkt, dass die Deutschen Christen auf ihrer Sportpalastkundgebung 1933 die Abschaffung des AT beschlossen5. Auch theologiehistorisch ist der Vorschlag brisant, wenn man in die Formationsphase der Kirche zurückgeht und an den „Erzketzer“ Markion erinnert, der im 2. Jahrhundert erstmals die Schriften des AT aus seinem Kanon der heiligen Schriften entfernt hat. Auch wenn die Quellenlage schwierig ist, da Markions Lehren nur im Zerrspiegel seiner Kritiker überliefert sind, lässt sich doch mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass er die paulinische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium im Sinne eines strikten Dualismus ausgedeutet hat. Tertullian, der eine eigene Schrift gegen Markion verfasst hat, schreibt:

„Die Trennung von Gesetz und Evangelium ist das ureigene und vorzügliche Werk Markions […]. Dieses Werk nämlich sind die Antithesen, d. h. die Gegenüberstellung widersprüchlicher Aussagen, die die Uneinigkeit zwischen Evangelium und Gesetz aufzeigen soll, damit sie aus der Verschiedenheit der Aussagen beider Schriften Argumente auch für die Verschiedenheit der Götter liefert.“6

Markion unterscheidet in der Tat zwischen dem Weltschöpfer und dem fremden Erlösergott, der sich in Christus gezeigt hat. Der eine habe die materielle Welt geschaffen und regiere sie durch sein Gesetz, er sei dunkel und unberechenbar, er strafe und zürne. Der andere sei der fremde Erlösergott, der sich um die Sphäre des Geistes kümmere und mit der materiellen Welt nicht in Berührung komme. Diese dualistische Gotteslehre hat kanontheologische Konsequenzen. Denn der Weltschöpfer, dessen unberechenbares Wirken in den Schriften des AT bezeugt ist, hat nach Markion mit dem Evangelium vom fremden Erlösergott nichts zu tun. Daher scheidet er die Schriften des Alten Bundes aus seinem Kanon aus und schafft ein von jüdischen Spuren gereinigtes Evangelium, das aus einem redigierten Lukasevangelium und zehn Paulusbriefen bestanden haben soll und allein dem fremden Erlösergott vorbehalten war.
Die Alternative, die hebräischen Schriften beizubehalten und christologisch neu zu deuten, verwirft Markion ebenso wie das Instrument dieser Neudeutung, die allegorische oder typologische Schriftauslegung, welche Kontinuitäten zwischen Altem und Neuem Bund aufzuweisen erlaubt und Präfigurationen des Kommenden im Gesetz und bei den Propheten zu identifizieren vermag7. Durch seinen eigenmächtig erstellten Kanon setzt sich Markion von der Lese- und Interpretationsgemeinschaft der Kirche ab und provoziert theologischen Einspruch. So bemängelt Irenäus von Lyon:

„Sie [die Markioniten] sind in ihren Vorstellungen von dem, der Gott ist, abgefallen, und haben sich eingebildet, sie selbst hätten mehr als die Apostel gefunden, da sie noch einen Gott hinzu erfanden. Die Apostel seien noch in jüdischen Vorstellungen befangen gewesen, als sie das Evangelium predigten; sie für ihren Teil seien aber unverdorbener und weiser als die Apostel. Deshalb sind Markion und seine Anhänger hingegangen und haben die Schriften zerschnitten; einige lehnen sie überhaupt ab, das Lukasevangelium und die Paulusbriefe kürzen sie dagegen, und als authentisch erkennen sie nur an, was sie selbst verstümmelt haben. Markions Anhänger lästern den Schöpfer von vorneherein mit der Aussage, er sei der Urheber des Bösen (malorum factorem), wobei ihr hauptsächlicher Grundsatz und Ausgangspunkt noch unerträglicher ist. Nach ihrer Lehre gibt es von Natur aus zwei voneinander verschiedene Götter, der eine ist gut, der andere böse.“8

Markions Gotteslehre, aber auch seine Amputation der heiligen Schriften um das Textkorpus des AT wurden mehrheitlich abgelehnt. Im Jahr 144 wurde er aus der Gemeinde von Rom ausgeschlossen9 und gründete eine Gegenkirche, die eine beachtliche Ausdehnung erfuhr und im Osten bis ins 5. Jahrhundert hinein Anhänger hatte. Sein theologischer Einfluss war so groß und nachhaltig, dass sich bedeutende Theologen der Alten Kirche wie Melito von Sardes, Justin der Märtyrer, Clemens von Alexandrien, Irenäus von Lyon, Tertullian und Origenes - um nur diese zu nennen - kritisch mit seinem Werk befasst haben.
Mit der Einheit des Gottesbegriffs haben sie die Einheit der Schrift in der Zweiheit ihrer Testamente verteidigt. Der heilsgeschichtliche Zusammenhang zwischen Altem und Neuen Bund dürfe nicht zerschnitten werden. Sie entwickelten die Idee einer Heilspädagogik Gottes, der das Menschengeschlecht durch seine Offenbarungen Stufe um Stufe auf die Ankunft des Erlösers vorbereitet habe. Um den Neuheits-Vorwurf gegenüber dem Christentum zu parieren, haben sie den Alters- bzw. Weissagungsbeweis entwickelt und sich dazu der typologischen Methode bedient, die überall Präfigurationen im AT ausmacht, die auf Jesus Christus vorverweisen. Mit dieser Einbeziehung des AT in den Kanon der heiligen Schriften haben die Kirchenväter einer Entjudaisierung des Christentums einen Riegel vorgeschoben und das Erbe Israels und dessen bleibende Bedeutung für die Kirche grundsätzlich verteidigt. Diese antimarkionitische Weichenstellung ist für die weitere Entwicklung konstitutiv.
Gleichwohl haben dieselben Kirchenväter die Kirche als „neues Israel“ verstanden und die These vertreten, dass die heilsgeschichtliche Rolle der Synagoge durch die Ekklesia abgelöst worden sei. So konnte Tertullian, der eine umfangreiche Schrift „Adversus Marcionem“ verfasst hat, zugleich einen Traktat „Adversus Iudaeos“ verfassen, in dem ein ganzes Ensemble von theologischen Überbietungsfiguren aufgeboten wird. Die Juden hätten durch ihre Weigerung, Jesus als Messias und Sohn Gottes anzuerkennen, schwere Schuld auf sich geladen und seien dafür mit der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung in alle Länder der Welt bestraft worden. Melito von Sardes, der sich ebenfalls kritisch mit Markion befasst hat, ist in seiner Pascha-Homilie noch einen Schritt weiter gegangen und hat die Kreuzigung Jesu als „Gottesmord“ bezeichnet. So sehr heutige Theologie die antimarkionitische Weichenstellung begrüßen wird, da sie mit dem AT die bleibende Bedeutung des Judentums für die Kirche festhält, wird sie sich von antijudaistischen Denkfiguren der theologischen Tradition distanzieren müssen. Vor allem die Substitutionstheorie, welche die heilsgeschichtliche Stellung Israels nach dem Kommen Christi für erloschen erklärt10, wird sie entschieden zurückweisen, wenn sie den Zeitindex „Auschwitz“ als Anstoß begreift, das verhängnisvolle Erbe des Antijudaismus selbstkritisch aufzuarbeiten und abzustreifen.
Die Kluft zwischen strafendem Weltenschöpfer und gnädigem Erlösergott, die schroffe Antithese zwischen Gesetz und Evangelium hatte bei Markion Auswirkungen auf seine Deutung Jesu: Der Erlöser durfte mit der „bösen Welt“ des Schöpfergottes nicht in Berührung kommen, die Offenbarung musste vom „Schmutz“ der Geschichte frei bleiben, das biblische Zeugnis von Geburt und Beschneidung Jesu wurde von Markion als judaisierende Übermalung getilgt11. Den Leib Christi verstand er als phantasma im Sinne einer engelhaften Erscheinung, um seine Herkunft aus der oberen Welt sicherzustellen12. In der doketischen Christologie Markions durfte Jesus nur zum Schein gelitten haben13. Damit brach er dem Glauben der Kirche, dass Gottes Logos ins Fleisch gekommen (vgl. Joh 1,14), am Kreuz für uns gestorben und am dritten Tage auferstanden sei (vgl. 1 Kor 15,14), die Spitze ab. Markions theologische Kritiker haben daher deutlich betont, dass die Offenbarung im Medium der Geschichte geschieht. Tertullian argumentiert: Wenn Christus nicht leibhaft gelitten hat, dann kann er auch nicht leibhaft auferstanden sein14. Nur wenn der Erlöser das Leiden und die Sterblichkeit auf sich nehme, könne er die erlösungsbedürftigen Menschen aus ihrer prekären Lage befreien - ganz im Sinne des späteren soteriologischen Grundsatzes „Quod non assumptum, non est sanatum - was nicht angenommen wurde, ist auch nicht erlöst“ 15. Das Kommen Christi aber müsse vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Verheißungen als deren Erfüllung gedeutet werden. Christus sei der „Offenbarer keines anderen Gottes als des Schöpfers“ 16 gewesen. Diese Weichenstellung der frühen Kirche ist in der Theologie der Neuzeit zunehmend brüchig geworden.

Harnacks Votum für die Entkanonisierung

Eine gewisse Rehabilitierung Markions hat der Berliner Dogmenhistoriker Adolf von Harnack vorgenommen, der schon in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte von 1886 dem Häresiarchen ein Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift gewidmet hatte „Das Unternehmen des Marcion, die ATliche Grundlage des Christenthums zu beseitigen, die Tradition zu reinigen und auf Grund des paulinischen Evangeliums die Christenheit zu reformieren“. Darin sind bereits die Grundlinien der Markion-Deutung vorgezeichnet, die Harnack 1921 in seiner gründlichen und bis heute einflussreichen Monografie weiter ausziehen sollte. Hier ist nicht der Ort, Harnacks Rekonstruktion kritisch zu würdigen, von Interesse ist allerdings seine viel zitierte und durchaus programmatische These:

„Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“17

Harnack geht davon aus, dass sich die Idee des Christentums in der Geschichte nach und nach ausgebildet hat und das Judentum rückblickend als religionshistorische Vorstufe bewertet werden kann. Für die formative Phase der Kirche gesteht er dem AT keine theologische, wohl aber eine essenziell geschichtliche Bedeutung zu. Jesus selbst und auch Paulus hätten auf dem Boden des AT gestanden. Hätte man damals das AT verworfen, wäre hinter der christlichen Religion ein „geschichtliches Vakuum“ entstanden. Luther hingegen habe „die Paulinisch-Markionitische Erkenntnis des Unterschieds zwischen Gesetz und Evangelium“ erneut ins Zentrum der theologischen Aufmerksamkeit gerückt; „sie wurde der Hebel der Reformation als geistlicher Bewegung“. Durch seine Kritik an der Werkgerechtigkeit habe er die inferiore Stellung des Gesetzes deutlich gemacht, allerdings sei Luther, der Liebhaber der Psalmen, zu sehr der kirchlichen Tradition verhaftet geblieben, um das AT aus dem Kanon zu entfernen. Das sei für die reformatorische Tradition als „Schicksal“ hinzunehmen.
Mit der historischen Kritik des 19. Jahrhunderts und der Auflösung der orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration, welche die Heilige Schrift als ein Diktat Gottes begreift, wäre nach Harnack allerdings der Schritt fällig gewesen, sich vom Alten Testament zu trennen. Dass dieser Schritt ausblieb, wertet er als anhaltende „Lähmung“. Dabei gesteht er durchaus zu, dass die Lektüre der alttestamentlichen Schriften auch für heutige Christen nützlich und erbaulich sei, allerdings stehe „auf vielen Blättern dieses Buches eine andere Religion und eine andere Sittlichkeit als die christliche“ 18, daher könne und solle das AT keinen kanonischen Rang mehr beanspruchen:

„Hier reinen Tisch zu machen und der Wahrheit in Bekenntnis und Unterricht die Ehre zu geben, das ist die Großtat, die heute - fast schon zu spät - vom Protestantismus erwartet wird.“19

Auch bei Harnack hat das Votum für die Entkanonisierung des AT christologische Folgen, insofern er die Gestalt Jesu scharf absetzt vom vermeintlichen Legalismus des damaligen Judentums. In seinen berühmten Vorlesungen über das „Wesen des Christentums“ zeichnet er ein Bild von Jesus, das den jüdischen Wurzelgrund weithin abblendet. Der Nazarener erscheint als Überwinder der pharisäischen Gesetzesfrömmigkeit, als Kritiker des veräußerlichten Tempelkults und als Verkünder einer einfachen menschenfreundlichen Moral. Durch die Anrede „Abba - lieber Vater“ habe Jesus ein neues Gottesverhältnis gestiftet und durch die Idee der universalen Liebe die Religion allen Menschen geöffnet. „Gott und die Seele - die Seele und Gott“, das erscheint als Quintessenz der Botschaft Jesu, die ernst und rein sei. Der Nazarener wird als Katalysator einer allgemeinen Menschheitsreligion gewürdigt, die über die partikulare Reichweite der Stammesreligion des Judentums hinausgeht.

Depotenzierung des Alten Testaments?

Slenczkas Thesen können als kreative Fortschreibung Harnacks gelesen werden, auch wenn sie ihm nicht überall folgen. Slenczka weist darauf hin, dass das AT „von einer Religionsgemeinschaft handelt und zu ihr spricht, von der sich die Kirche getrennt hat.“20 Das AT sei das Dokument einer Religionsgemeinschaft, mit der die Kirche nicht mehr identisch ist. Sie habe zwar das Bewusstsein, aus dem Judentum hervorgegangen zu sein, wolle aber aus Respekt vor dieser anderen Religionsgemeinschaft sich deren Textkorpus nicht zu eigen machen, sondern allenfalls als religionsgeschichtliche Vorstufe des christlichen Glaubens gegenwärtig halten. Das AT komme als Gegenstand einer Predigt im Gottesdienst der Kirche nur dann infrage, wenn es im Horizont des Neuen Testaments ausgelegt werde. Dies sei aber gerade unter den Bedingungen des christlich-jüdischen Dialogs schwierig, weil das Selbstverständnis des Judentums als Volk des Bundes zu achten sei und eine christologische Vereinnahmung vermieden werden müsse. Außerdem sei die gegenwärtige Kirche nicht mehr in der Lage, die heilsgeschichtliche Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament im Sinne der vormodernen Theologie zu konzipieren.
In der Tat erfolgt die exegetische Arbeit heute - von wenigen Ausnahmen abgesehen - im Rahmen der historisch-kritischen Methode, welche eine christologische Deutung des AT ablehnt. Schon bei Hermann Samuel Reimarus, einem der Pioniere der historischen Bibelkritik, heißt es lapidar: „Das Alte Testament kündigt nicht Jesus von Nazareth als den von den Juden erwarteten Messias.“21 Mit der Intention, die historische Aussageabsicht der Texte in ihrer Zeit präzise zu erschließen, werden diese als Zeugnisse der Vergangenheit in den Blick genommen. Slenczka spricht von der Fremdheit des AT, die hermeneutisch ernst genommen werden müsse. Im kirchlichen Gottesdienst und in der Frömmigkeitspraxis spiele das AT eine deutlich geringere Rolle als das Neue Testament. Diese faktische Depotenzierung des AT werde allerdings in Kirche und Theologie nicht ehrlich zugestanden. Ehrlicher sei es daher, mit Harnack die Schriften des AT aus dem Kanon herauszunehmen und auf das Niveau von apokryphen Schriften herabzustufen.

Enteignungsthese

Dieser provokante Vorschlag basiert allerdings, worauf Ludger Schwienhorst- Schönberger aufmerksam gemacht hat, auf zwei problematischen Vorannahmen. Zum einen geht Slenczka davon aus, dass das Judentum theologisch enteignet werde, wenn man die Schriften des AT im Rahmen einer christologischen Hermeneutik lese. Zum anderen setzt er voraus, dass der heilsgeschichtliche Zusammenhang zwischen AT und NT im Paradigma der historisch-kritischen Methode nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das Enteignungsargument22 begreift das Judentum als Mutter und das Christentum als Tochterreligion. Dieses Filiationsmodell ist in der neueren Forschung weithin aufgegeben worden, da die Ausbildung des frühen Christentums deutliche Rückwirkungen auf die Formation des rabbinischen Judentums gehabt hat. Der Judaist Peter Schäfer hat in durchaus korrektivischer Absicht von der „Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums“23 gesprochen und festgehalten:

„Das Modell der einen Schwesterreligion (‚Christentum‘), die aus der anderen hervorgeht und sich fast gleichzeitig von ihr ablöst, um einen eigenen, unabhängigen Weg zu wählen, während die andere (‚Judentum‘) bemerkenswert unbeeindruckt von diesem epochalen Ereignis unbeirrt ihren Kurs weitersteuert, bis sie durch die Gewalt der Geschichte der stärkeren ‚Religion‘ unterliegt - dieses simplizistische Schwarz-Weiß-Gemälde ist nicht mehr aktuell.“24
Heute begreift man die hebräische Bibel als das Textkorpus des einen Gottesvolkes und geht davon aus, dass es mit dem Auftreten Jesu in der Auslegungsgemeinschaft dieses Gottesvolkes zu einem Interpretationskonflikt mit doppeltem Ausgang25 gekommen ist. Die eine Partei habe die Schriften auf Jesus, den Messias, hin gelesen, wie es in den Evangelien (vgl. Lk 24, 25-27), der Apostelgeschichte (vgl. Apg 8, 30-36) und den paulinischen Briefen (vgl. 1 Kor 15, 3-5) geschieht. Die andere Partei habe diese messianische oder christologische Lesart strikt abgelehnt, aus ihr ist nach der Zerstörung des Tempels und dem Ende des Opferkults das rabbinische Judentum hervorgegangen. Beide Lesarten - die des NT und die der Rabbinen - sind historisch nebeneinander und theologisch oft gegeneinander ausgebildet worden.
Allerdings gibt es bereits in der Anordnung der Schriften bedeutsame Differenzen. Auch wenn der Handschriftenbefund im Einzelnen sehr komplex ist und es divergente Kanongestalten gibt26, so lässt sich im Blick auf die jüdische Bibel, den Tenach, doch sagen, dass auf die Tora zunächst die Propheten und dann die Weisheits-Schriften folgen. Mit dieser Reihenfolge ist eine kanontheologische Gewichtung gegeben: Die Tora, die fünf Bücher Mose, steht am Anfang. Sie ist, wenn man so will, der Kanon im Kanon, ihr kommt das größte Gewicht zu - und es ist durchaus bedeutsam, dass das Buch Josua, welches die gewaltsame Landnahme enthält, nicht in die Tora aufgenommen wurde. Nachgeordnet sind die Nebiim, die man in „Vordere Prophetie“ (Jos bis 2 Kön) und „Hintere Prophetie“ (Jes bis Mal) untergliedern kann. Den Abschluss bilden die Ketubim, die Weisheitsschriften, die durch die beiden Chronikbücher beschlossen werden. In der griechischen Übertragung der Septuaginta (LXX) hingegen, auf die sich das AT im zweiteiligen Kanon der christlichen Bibel stützt, findet sich, zumindest bei den meisten Textzeugen, eine andere Anordnung: Auf die Tora, die ebenfalls am Anfang steht und einen Vorrang innehat, folgen zunächst die Geschichtsbücher (Jos bis 2 Makk), dann die Weisheitsbücher (Hi bis Sir) und schließlich die Propheten (Jes bis Mal). Dadurch ergibt sich

„eine geschichtsheologische Struktur: Vergangenheit (Geschichte) - Gegenwart (Weisheit) - Zukunft (Prophetie) - und im Blick auf die Übergangsfunktion von Mal 3, 22-24 eine Öffnung der Prophetie Israels auf das sich nun anschließende Neue Testament“27.

Diese Neuanordnung der Schriften, die von den meisten Kanonlisten bezeugt wird28, ist für die Sinnerschließung insofern bedeutsam, als die prophetischen Verheißungen damit an die Schwelle der vier Evangelien rücken, die den ersten Teil des neutestamentlichen Kanons bilden. Das Verhältnis der beiden Testamente in der einen christlichen Bibel wird damit unter das Vorzeichen von Verheißung und Erfüllung gestellt, das schon früh auch in den liturgischen Leseordnungen bestimmend wird.
Beide Lesarten, die jüdisch-rabbinische und die christliche, sind in einem literaturwissenschaftlichen Sinn legitim und können sich heute auch in theologischer Hinsicht wechselseitig bereichern. So hat Papst Benedikt XVI. notiert:

„Wir erkennen es seit Jahrhunderten des Gegeneinanders als unsere Aufgabe, dass diese beiden Weisen der neuen Lektüre der biblischen Schriften - die christliche und jüdische - miteinander in Dialog treten müssen, um Gottes Willen und Wort recht zu verstehen.“29

Entsprechend haben jüdische Gelehrte in dem Dokument „Dabru emet - redet Wahrheit“ (2013) herausgestellt, dass Juden und Christen sich auf die Autorität ein und desselben Buches stützen, auch wenn sie die Bibel in vielen Punkten unterschiedlich interpretieren30. Diese unterschiedliche Interpretation müsse respektiert werden. Angesichts einer langen Geschichte der Entfremdung ist es allerdings gerade im Blick auf die Christologie nicht ganz leicht, in eine geduldige und von polemischen Verzerrungen freie Verständigung einzutreten. Auf christlicher Seite gab es judenfeindliche Aussagen in den Adversus-Iudaeos-Schriften mit entsprechenden Stereotypen wie der verblendeten Synagoge oder der selbstgerechten Tora-Frömmigkeit. Auf jüdischer Seite gab es antichristliche Aussagen in der Toledot-Jeschu-Literatur sowie in den polemischen Gegenerzählungen des babylonischen Talmuds. Hier wurden neutestamentliche Zeugnisse über Jesus bewusst parodiert.
Diese Gegenerzählungen31 zeigen, dass der Disput um Jesus im Zentrum des Interpretationskonfliktes der beiden Lesarten des „Ersten Testaments“ steht. Im christlich-jüdischen Gespräch wird man dieses polemische Gift heute neutralisieren müssen, um in der Verständigung voranzukommen. Wenn Christen lernen, das jüdische Nein zu Jesus, das aus Treue zur Tora gesprochen wird, zu respektieren und neuere Versuche einer „Heimholung des jüdischen Jesus in sein Volk“32 aufmerksam zur Kenntnis nehmen, können umgekehrt Juden anerkennen, dass das Christentum den Monotheismus Israels und die Weisungen des Dekalogs zu den Völkern gebracht hat. In diesem Sinn wurde in „Dabru emet“ die Freude darüber zum Ausdruck gebracht, „dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.“33
Schließlich wirft Slenczkas Vorstoß, das AT auf den Status apokrypher Schriften herabzustufen, die Frage nach Reichweite und Grenzen der historisch-kritischen Methode auf. Ohne Zweifel ist diese unerlässlich, um die biblischen Texte präzise zu analysieren, das historische Geschehen zu rekonstruieren und die geschichtliche Aussageabsicht der Hagiografen zu eruieren; ihr Instrumentarium bleibt aber stumpf, wenn es um die christologische Bedeutung des AT geht:

„Wenn aber das Alte Testament nicht von Christus spricht, dann ist es keine Bibel für den Christen.“34

Um einer solchen Bedeutungsentleerung des AT vorzubeugen, hatte schon das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Offenbarungskonstitution gelehrt, dass die historisch-kritische Forschung um eine theologische Interpretation ergänzt werden müsse, welche die aktuelle Bedeutung der Schrift für die christliche Glaubensgemeinschaft erschließt und dabei der regula fidei der kirchlichen Lese- und Interpretationsgemeinschaft Rechnung trägt (vgl. DV 12)35. Dabei ist die Zurückhaltung gegenüber Lesarten, welche Tora, Psalmen und Propheten allzu forciert im Licht Jesu Christi deuten, heute durchaus verständlich angesichts der antijudaistischen Überbietungslogik, die sich in vielen patristischen und mittelalterlichen Schriftkommentaren findet.
Aber ist diese Überbietungslogik zwingend? Und muss man die Reichtümer der patristischen und mittelalterlichen Exegese für die Gegenwart verloren geben, weil sie nicht den Standards der historischen Kritik entspricht? Eine christologische Interpretation des AT vermag durchaus Sinnpotenziale freizulegen, die in diesem selbst angelegt sind. Insofern ist eine solche Auslegung historisch und intellektuell redlich, zumal sie von den Autoren des Neuen Testaments selbst vertreten wird36. Das Projekt einer Rehabilitierung der altkirchlichen Bibelhermeneutik für die Gegenwart hätte allerdings die Frage zu klären, ob, und wenn wie, in einer christlichen Lesart der Konnex zwischen alttestamentlicher Verheißung und neutestamentlicher Erfüllung fruchtbar gemacht werden kann, ohne in antijudaistisches Fahrwasser zu geraten. Immerhin ist die Präsenz des AT in den Leseordnungen der katholischen Liturgie durch das Zweite Vatikanische Konzil erheblich gestärkt37 und das Studium der ganzen Heiligen Schrift als „Seele der Theologie“38 mit Nachdruck empfohlen worden.

Eine Verkürzung - und Entjudaisierung

Würde man das AT aus dem Kanon streichen und auf das Niveau apokrypher Schriften absenken, liefe das nicht nur auf eine Verkürzung der biblischen Überlieferung hinaus, sondern auch auf eine problematische Entjudaisierung und Entwurzelung des Christentums. Eine solche Amputation aber kann niemand wollen. Gerade aus christologischen Gründen ist der alttestamentliche Hintergrund gegenwärtig zu halten, wenn man das Judesein Jesu nicht nur als quantité négligeable, sondern mit den Evangelien als heilsgeschichtlich bedeutsam einstuft: Jesus ist nach der Tora am achten Tag beschnitten worden (Lk 2,21; Röm 15,8; vgl. Lev 12,3); er ist mit der Tora aufgewachsen (vgl. Gal 4,4) und hat die Psalmen Israels gebetet. In der Bergpredigt ist das Wort überliefert: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Die Neuinterpretation, die Jesus dem Sabbatgebot sowie den Reinheitsvorschriften gegeben hat, ist daher nicht als schlichte Negation der Tora, sondern als deren Neuausrichtung auf den Gotteswillen hin zu deuten.
Jesus lehrte am Sabbat in den Synagogen. Sein Bekenntnis zum einen Gott hat er im Schema zusammengefasst: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist einer“ (Mk 12,29; vgl. Dtn 6,4) und das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe im Anschluss an die Tora vorgetragen (Mk 12, 29-31; vgl. Dtn 6,5; Lev 19,18). Seine Botschaft von der nahe gekommen Gottesherrschaft schließt an die Propheten Israels an - ja noch das dunkle Geschick seines bevorstehenden Leidens dürfte Jesus nach seinem Einzug in Jerusalem im Licht des vierten Gottesknechtslieds (Jes 52,13-53,12) gedeutet haben. Gestorben ist er schließlich als gläubiger Jude mit dem Gebet von Psalm 22 auf den Lippen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) In der Erzählung von den Emmaus-Jüngern wird deutlich, dass der Auferstandene ihnen „ausgehend von Mose und allen Propheten darlegt, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (Lk 24,17). Der Verfasser des Hebräerbriefs war davon überzeugt, dass derselbe Gott, der „viele Male und auf vielerlei Weise einst zu den Vätern gesprochen hat durch die Propheten, in dieser Endzeit zu uns gesprochen hat durch den Sohn“ (Hebr 1,1 f.). Die Sinnoffenheit der alttestamentlichen Verheißungen kann demnach auf Jesus den Messias hin gelesen werden:

„Man könnte formulieren, das Christusereignis sei wie ein Notenschlüssel vor die schon vorhandene Melodie gesetzt.“39

Diese Notizen zum alttestamentlichen Hintergrund der Christologie mögen zeigen, dass es verfehlt wäre, das AT in seiner Bedeutung für das Christentum abzuschwächen. Selbst wenn Jesus bestimmte Vorschriften der Tora relativiert haben sollte und das Apostelkonzil in Jerusalem beschlossen hat, die Heidenchristen von der Beschneidung und den Reinheitsvorschriften auszunehmen (vgl. Apg 15, 1-35), ist dies kein Grund, „eine Relativierung der Gültigkeit des Alten Testaments für den christlichen Glauben“40 zu fordern, es sei denn, man würde Relativierung als einen hermeneutischen Akt der In-Beziehung-Setzung verstehen - und zwar so, dass man die Schriften des AT auf Jesus Christus hin und von ihm her liest, ohne diese allein auf ihr christologisches Sinnpotenzial zu reduzieren. Denn der Verheißungsüberschuss, der in der Botschaft der Propheten beschlossen liegt, darf nicht übergangen werden. Das universale Reich von Frieden und Gerechtigkeit (vgl. Jes 2; 55; 60-62; Jer 31; Am 9, 11-15 usw.) ist für Christen mit dem Kommen Christi anfänglich zwar bereits angebrochen, die Vollendung und Aufrichtung des eschatologischen Heils steht allerdings immer noch aus. Gerade an diese Ausständigkeit der prophetischen Heilsverheißungen haben Juden Christen immer wieder erinnert - und damit einer allzu triumphalistischen Erfüllungs-Christologie ein notwendiges Korrektiv entgegengehalten. Sobald die Kirche das AT vergisst, gerät sie, wie Hans Urs von Balthasar eindrücklich herausgestellt hat, in Gefahr:

„Sobald die Kirche die Gewalt, die Wucht, den Kabod und die ungeheure prophetische Dringlichkeit des Alten Bundes einen Augenblick vergisst, sinkt sie sofort von ihrer Höhe ab, ihr Salz wird schal, ihr Christusbild nazarenisch, harnackisch, schließlich nazistisch.“41

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